
Denn die Vierzigjährige gehört der Ethnie der Rama an, einer Volksgruppe mit gerade einmal noch etwa 2.000 Nachfahren, die ihre Heimat an der südlichen Atlantikküste von Nicaragua hat. Die Familien der Rama leben unter einfachsten Lebensverhältnissen in kleinen Dorfgemeinschaften. Als Zuhause dienen in der Regel einfache Holzhütten, die auf Pfählen aufgebaut sind. Die Menschen ernähren sich zumeist vom Fischfang und kleiner Landwirtschaft für den eigenen Verbrauch. Die Rama gehören zu einer der vier ethnischen Minderheiten an der Atlantikküste Nicaraguas, neben der größten Gruppe der Miskito (120.000), den Sumo (4.000) und den Creoles und Garifuna (23.000).
Zum typischen Erscheinungsbild an der Atlantikküste Nicaraguas gehören die einfachen Pfahlbauten, in denen ganze Familien Platz finden.
Im Gegensatz zum westlichen Teil Nicaraguas, in dem sich seit dem 16. Jahrhundert unter der spanischen Kolonialmacht eine hispanisierte Gesellschaft entwickelte, stand die Atlantikküste zunächst unter britischer Herrschaft und hat bis heute ihre eigene Kultur aufrecht- erhalten. „Unsere Kultur als Rama droht verloren zu gehen“, konstatiert Becky McCray, „so gibt es in unserer Volksgruppe nur noch fünf Menschen, die unsere eigene Sprache, das Rama Creole English, noch richtig beherrschen.“ Für eine das Standard- englisch sprechende Person ist diese Sprache nicht zu verstehen.
Becky McCray ist es mittlerweile gewohnt, sich in „verschiedenen Welten“ zurechtzufinden. Als eine von insgesamt elf Geschwistern war es ihr möglich, zunächst eine Ausbildung als Krankenschwester zu durchlaufen und dann sogar ein Studium der Rechtswissenschaft abzuschließen. Auch dass sie fließend Spanisch spricht, ist für eine Rama durchaus etwas Besonderes.
Doch was hat diese bescheidene und sympathische Frau nach Königswinter geführt? Die Geschichte dazu könnte ganze Seiten füllen. Kurz gefasst war es wie folgt: Nach der Ausbildung zur Krankenschwester arbeitete Becky McCray einige Jahre in einer Krankenstation in Bluefields, der Regionalhauptstadt der Autonomen Südlichen Atlantikregion. Ein Stipendium ermöglichte ihr ein Jurastudium am örtlichen College. Sie wurde die erste Rechtsanwältin ihrer Volksgruppe. Mit diesen Qualifikationen war Becky McCray auch für die lokalen Behörden interessant und sie arbeitete mehrere Jahre im Bürgermeisteramt von Bluefields.
Der Bruch kam im Jahr 2015: Becky McCray wurde mit der Forderung konfrontiert, sich nicht weiter für die Interessen der Rama einzusetzen und den Widerstand gegen ein geplantes Infrastrukturprojekt aufzugeben. „Für mich war klar, dass ich als Rama mein Volk nicht verraten darf. Als ich diese Entscheidung meinem damaligen Chef mitteilte, wurde ich zunächst von allen kommunalen Gremien ausgeschlossen. Im Oktober 2018 folgte dann die Kündigung meines Arbeitsvertrages.“
Der Hintergrund: Die nicaraguanische Regierungspartei Frente Sandinista de Liberación Nacional kontrolliert maßgeblich alle Regierungsbereiche, auch an der Atlantikküste. Im November 2015 billigte die Regierung offiziell eine Umweltverträglichkeitsstudie, mit der grünes Licht für ein großes Infrastrukturprojekt gegeben wurde: der „Große Interozeanische Kanal“ (Gran Canal Interoceánico), der den Atlantischen mit dem Pazifischen Ozean verbinden soll. Eine chinesische Investorengruppe hatte bereits Verträge zur Umsetzung mit der Nationalregierung in der Hauptstadt Managua vereinbart, ohne dass die Rama in diesen Prozess einbezogen worden wären.
Die geplante Route eines Nicaragua-Kanals, der den Pazifik mit dem Atlantik verbinden soll und die Lebensregion der Ethnie der Rama gefährden würde.
„Aus meinen regelmäßigen Treffen mit den Menschen in der Region wusste ich, dass die Rama dieses Megaprojekt eines interozeanischen Kanals nicht wollten“, so Becky McCray. Sie ist überzeugt: Der Kanal würde es notwendig machen, verschiedene Rama-Dörfer umzusiedeln. Zudem befände sich der Ort Bangkukuk an der Atlantikküste, eine heilige Stätte der Rama, am zentralen Einfahrtshafen. Die geplante Infrastruktur würde aus dem kleinen Dorf ein riesige Stadt machen und die Kultur der Rama endgültig vernichten. Wegen finanzieller Engpässe scheint es jedoch derzeit ungewiss, ob und wann mit dem Bau begonnen wird.
Durch ihre langjährige Mitarbeit in einem Dachverband nicaraguanischer Menschenrechtsorganisationen kannte Becky McCray die Präsidentin der Menschenrechtsorganisation CEJUDHCAN in Puerto Cabezas (in der Autonomen Nördlichen Atlantikregion), Lottie Marie Cunningham. Als Cunningham von der Entlassung erfuhr, bot sie Becky McCray mit Unterstützung von Brot für die Welt an, den Vollzeitkurs der Akademie für Konflikttransformation in Deutschland zu besuchen. „Ich habe sofort zugesagt, denn die Frage, wie mit Konflikten konstruktiv umgegangen werden kann, hat mich schon immer interessiert“, beschreibt Becky McCray ihren Entschluss. „Schließlich kam ich ja gerade aus einer solchen Konfliktsituation. Wegen der Pläne für den Kanalbau, aber auch wegen der wachsenden Zahl von Siedlern aus der Pazifikregion, die mehr und mehr in unser Stammesgebiet eindringen.“
An der Atlantikküste Nicaraguas gehören kleine Einbaumboote zu den wichtigsten Transport- und Beförderungsmitteln.
Im Februar 2019 kam Becky McCray schließlich nach Deutschland, um am Ausbildungskurs zur Friedensfachkraft teilzunehmen. Ein Kurs, der mit insgesamt sechs Nationalitäten sehr interkulturell aufgestellt war. „Ich bin daran interessiert, Methoden und Techniken kennenzulernen, die es mir ermöglichen, in einer Konfliktsituation wie in meiner Heimat zur Lösung von Konflikten beizutragen. Die systemische Analyse von Konflikten hat mir sehr weitergeholfen.“
Was sie weiter umtreibt, ist die Frage, wie aus dem Gelernten konkrete Projekte erwachsen können. In jedem Fall ist sie dankbar für diese Möglichkeit der Weiterbildung. „Ich habe sehr viel gelernt. Sehr hilfreich wäre es, wenn das forumZFD allen Kursteilnehmenden weiterführende Qualifizierungen anbieten könnte“, ist sie überzeugt. Mit einem verschmitzten Lächeln ergänzt sie: „Das wäre doch die Gelegenheit für das forumZFD, in Mittelamerika Fuß zu fassen und sich verstärkt den Problemen indigener Völker zu widmen.“
Worauf sie am meisten gespannt ist? „Ich freue mich sehr, nach der vier- monatigen Ausbildung hier in der Akademie meine Familie in Rama Cay wiederzutreffen, insbesondere meine beiden Töchter“, sagt Becky McCray. Das Leuchten in ihren Augen ist bei dem Gedanken an das Wiedersehen nicht zu übersehen.