
In der Stille des frühen Morgens, bevor die Welt erwacht, hebt Hamida Alqasmi ihre Kamera gen Himmel. Sie beobachtet, wie sich das Licht langsam über die Dächer ergießt, wie sich die Schatten dehnen und verschieben wie Erinnerungen. Für die meisten Menschen ist es nur ein Foto. Für Hamida ist es eine Art zu atmen.
Sie war nicht immer Fotografin. Einst war sie ein junges Mädchen in Syrien, umgeben von der Wärme der Familie und vielen Träumen. Doch im Jahr 2013 änderte sich alles. Der Krieg zerstörte ihr Zuhause und ihre Kindheit und zwang sie, in Jordanien Zuflucht zu suchen. Die Reise war lang, ungewiss und voller Verluste. In der darauffolgenden Stille trug sie die Last der Trauer, verblassende Erinnerungen und tausend unausgesprochene Gefühle mit sich.
Jahrelang kämpfte sie darum, zu verstehen, was mit ihrem Land, ihrer Familie und ihr selbst geschehen war. Es gab Dinge, die sie nicht erklären konnte, nicht einmal denen, die ihr am nächsten standen. Ein tiefes Trauma saß in ihrer Brust, unbenannt und unbewältigt. Das änderte sich im Jahr 2023, als sie zufällig auf ein von Pro Peace Jordanien angebotenes Fotografie-Training stieß.
Zuerst war sie nur neugierig. Sie hatte noch nie eine Kamera benutzt. Aber von dem Moment an, als sie sie in den Händen hielt, veränderte sich etwas. Sie war wie ein Rettungsanker, eine Möglichkeit, ihre Welt zu erfassen und ihr einen Sinn zu geben. In der Ausbildung lernte Hamida nicht nur etwas über Licht und Schatten, sondern auch, wieder zu sehen. Sie lernte zu fühlen, sich auszudrücken und eine neue Sprache aus Bildern zu sprechen.
Hamida lernte in einem von Pro Peace angebotenen Workshop ihre Emotionen durch Bilder auszudrücken.
Hamida und die anderen Teilnehmenden fühlten sich verbunden. Noch bedeutungsvoller wurde das Training für sie durch den Trainer, Mohammad Farraj, einen palästinensischen Journalisten, der selbst nach Jordanien geflohen war, nachdem er jahrelang aus Konfliktgebieten berichtet hatte. Für Hamida und die anderen Teilnehmenden schuf die Anwesenheit in einem Raum mit anderen Geflüchteten und einem geflüchteten Trainer, die Ähnliches erlebt hatten, einen Raum des tiefen Verständnisses und der gemeinsamen Resilienz.
Farrajs Geschichte über die Gründung von „Freedom Photographers“, einer von „Freedom Writers“ inspirierten Initiative, bei der er mit Kindern im Flüchtlingslager Balata in Palästina arbeitete, hinterließ bei Hamida Freude und Hoffnung. „Als ich hörte, wie er davon sprach, Schmerz in ein Ziel zu verwandeln und Kindern zu helfen, durch ein Kameraobjektiv Stärke zu finden, machte es in mir Klick“, sagt sie. Seine Worte inspirierten sie nicht nur, sie gaben ihr auch einen Fahrplan. Sie begann davon zu träumen, ihre eigene Fotowerkstatt zu eröffnen, eine Art Kunsttherapie-Raum, in dem geflüchtete Frauen mit Hilfe der Fotografie Gefühle ausdrücken, die sie nicht in Worte fassen können.
Frieden spenden
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Im Anschluss an die Schulung fand eine Fotoausstellung statt, bei der die Teilnehmenden zum Ausdruck bringen konnten, was Frieden für sie bedeutet. Es war eine bewegende, unerwartete Sammlung von Wahrheiten. Für Einige bedeutete Frieden den Zugang zu Bildung, Arbeit oder einfach nur zu Dienstleistungen, die ihnen lange Zeit verweigert worden waren. Für andere war es Harmonie mit Tieren oder ein Leben in einer grünen, gesunden Umgebung. Einige sahen das Wesen des Friedens in der Freiheit zu wählen, zu sprechen und selbst Entscheidungen zu treffen. Es war ein Kaleidoskop von Träumen und Sehnsüchten.
Aber Hamidas Fotos stachen heraus. Sie waren schwer, roh, fast bedrohlich. Auf einem saß ein Mädchen hinter den Gittern eines Käfigs. Auf einem anderen eine Figur ohne Mund, unfähig zu sprechen. Es gab keine hellen Farben, nur Schatten. Hamida hatte ihre eigene Geschichte erzählt. Eine Geschichte, in der sie sich gefangen, stimmlos und unsichtbar fühlte. Durch ihr Objektiv gab sie diesen Gefühlen endlich eine Form, einen Raum und eine Stimme. Jedes Klicken des Auslösers half ihr, ein wenig von der Last loszulassen, die sie so lange getragen hatte. Manchmal weinte sie bei der Bearbeitung ihrer Fotos; nicht aus Traurigkeit, sondern weil sie endlich sehen konnte, was sie fühlte.
Die Fotografie ermöglicht es Hamida, ihre Erlebnisse auf der Flucht zu verarbeiten.
Doch auch wenn sich ihre Leidenschaft in ein Ziel verwandelt hat, sind die Realitäten des Lebens auf der Flucht nach wie vor sehr präsent. Wie viele Syrer*innen, die in Jordanien leben, ist Hamida mit Einschränkungen konfrontiert, die eine formelle Beschäftigung nahezu unmöglich machen. Den meisten Geflüchteten ist es nicht erlaubt, außerhalb einiger weniger zugelassener Sektoren legal zu arbeiten, und besonders für Frauen sind die Hürden noch höher: Sie stehen unter sozialem Druck, wirtschaftlicher Not und haben nur begrenzten Zugang zu Möglichkeiten. „Du hast den Willen, die Fähigkeiten und sogar die Träume“, sagt Hamida, „aber manchmal fühlt es sich an, als würdest du auf der Stelle laufen.“ Die Kamera hat ihr in vielerlei Hinsicht einen Weg eröffnet, den es vorher nicht gab, eine Möglichkeit zu arbeiten und sich trotz aller Widrigkeiten etwas Eigenes aufzubauen.
Was als therapeutisches Ventil begann, ist nun zu einem Lebensunterhalt geworden. Hamida arbeitet professionell als Fotografin und fotografiert Hochzeiten, Porträts und Gemeindeveranstaltungen. Ihre Kund*innen bewundern ihre Fähigkeit, Emotionen in ihrer rauesten, ehrlichsten Form einzufangen. Aber für Hamida ist die Fotografie mehr als nur ein Job, sie ist eine stille Rebellion, ein Weg, ihre Geschichte zurückzuerobern.
Auf die Frage, ob sie nach Syrien zurückkehren möchte, jetzt, wo sich die Situation zu verbessern scheint, kommt ihre Antwort langsam. Syrien, sagt sie, ist in ihrem Herzen verankert. Aber es ist ein Ort, der sowohl mit Liebe als auch mit Verlust verbunden ist. „Ich habe hier neue Wurzeln geschlagen“, sagt sie. „Jordanien hat mir Raum gegeben, um zu heilen, um jemand Neues zu werden. Obwohl es sich ganz natürlich anfühlt, zurückzugehen, fühlt es sich gleichzeitig auch unmöglich an. Die Narben sind noch empfindlich, und die Zukunft ist noch ungewiss.“
Dank ihres Trainers Mohammad Farraj konnte Hamida durch die Kameralinse zu neuer Stärke finden.
Und doch träumt sie. Sie träumt davon, ein kleines, warmes, lichtdurchflutetes Studio zu eröffnen, in dem Frauen wie sie das Fotografieren lernen und ihre Geschichten ohne Angst erzählen können. Sie möchte einen Raum schaffen, wo Kreativität zur Heilung wird, wo Visionen Stille vertreiben und wo Kameras Werkzeuge der Befreiung sind.
Durch die Kameralinse hat Hamida etwas gefunden, was sie nie erwartet hätte: sich selbst. In jedem Foto, das sie macht, findet sich eine Spur ihrer Reise, ein Flüstern von allem, was sie durchgemacht hat und was sie zu werden hofft.
Sie mag ihr Zuhause zurückgelassen haben, aber im Klicken des Auslösers, im Schein des eingefangenen Lichts, baut Hamida etwas Neues auf. Bild für Bild findet sie ihren Weg zur Heilung.