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Enorme Auswirkungen trotz geringer Infektionsrate

Kosovo-Regierung zerfällt im Streit über Corona-Maßnahmen

Mitte April war die Ausbreitung des Coronavirus im Kosovo noch recht gering, etwa 360 Menschen waren infiziert. Diese Zahl ändert sich jedoch täglich aufgrund des natürlichen Ausbreitungsverhaltens des Coronavirus. Dennoch hat die Pandemie einen enormen Einfluss auf das soziale Leben, die Wirtschaft und die Politik im Land.
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© Pixabay

Im Folgenden schildern unsere Kolleg*innen vom forumZFD Kosovo ihre Eindrücke. Danke dafür an: Nehari Sharri, Vjollca Islami Hajrullahu, Vanessa Robinson-Conlon, Valentina Pancaldi und Korab Krasniqi.

Wie reagiert das Kosovo auf die Corona-Pandemie?

Die medizinischen Kapazitäten des Kosovo sind sehr begrenzt und würden einer ernsthaften Ausbreitung des Virus nicht standhalten. Das Universitätsklinikum des Kosovo in Pristina ist das einzige Krankenhaus mit der notwendigen Ausrüstung für die Behandlung schwerwiegender Fälle, allerdings hat auch dies nur eine begrenzte Anzahl von Betten und Beatmungsgeräten.

Mitte März führte die kosovarische Regierung restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ein: Die Grenzen wurden geschlossen, ebenso wie Parks, Schulen, Restaurants und Geschäfte. Mitte April wurden die Maßnahmen nochmals verschärft, Menschen dürfen nur noch zu einer festgelegten Zeit für eine Stunde ihre Wohnung verlassen.

Infolge der Isolationsmaßnahmen befürchten Frauenorganisationen im Kosovo eine deutliche Zunahme von geschlechtsspezifischer Gewalt, und häusliche Gewalt ist ihnen zufolge im Kosovo ohnehin weit verbreitet. Die Einschränkungen werden die Wirtschaft des Kosovo aller Voraussicht nach sehr hart treffen, alle stellen sich auf eine Wirtschaftskrise ein. Hoffnung macht die sichtbare Solidarität unter den Menschen. Es gibt viele Initiativen von Unternehmen, Einzelpersonen, Verbänden und Organisationen, um den Menschen in Not zu helfen.

Darüber hinaus bieten viele Organisationen kostenlose Online-Dokumentationen, Filme, Yoga oder Fitnesskurse im Internet an. In der Nachbarschaft kaufen Menschen für die Älteren und Schwachen ein, einige Ärzte erklärten sich dazu bereit, ihre Dienste kostenlos anzubieten. Die albanische Diaspora in Europa unterstützt das mit der Pandemie kämpfende Gesundheitssystem bereits mit Spendenaktionen.

Welche politischen Folgen hat die Krise?

Die Gesundheitskrise führte sehr bald zu einer politischen Krise. Die erst wenige Wochen zuvor gebildete Regierung zerbrach bereits am 25. März im Streit über den richtigen Umgang mit der Pandemie und brachte das Land in eine äußerst instabile Situation. Viele Menschen zeigten sich darüber empört, dass die Regierungsparteien ihre politischen Fehden austrugen, anstatt sich der Pandemie zu stellen.

Ihren Protest bringen sie zum Ausdruck, indem sie jeden Abend um 20 Uhr auf ihren Balkonen Töpfe und Pfannen als eine Form des Widerstands aneinanderschlagen. Diese Form des Protests erinnert an Aktionen der 90er-Jahre gegenüber Milošević im Kosovo, das damals noch eine Teilrepublik Serbiens war.

Welche Auswirkungen hat die Situation auf die Konflikte im Land?

Die aktuelle Krise wird außerdem starke psychologische Auswirkungen haben: Die Angst vor Lebensmittelknappheit und die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wecken bei vielen Menschen Erinnerungen an die Konflikte der 90er-Jahre und insbesondere den Krieg von 1999.

Friedensorganisationen wie das forumZFD, die sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit befassen, erwarten, dass diese Arbeit zukünftig noch schwieriger wird. Die Menschen und die Gesellschaft haben in Zeiten der Krise schon Schwierigkeiten, mit der Gegenwart umzugehen, und wollen nicht mit einer belastenden Vergangenheit konfrontiert werden.

In der Krise sind die unterschiedlichen Gemeinschaften im Kosovo leider nicht näher zusammengerückt – allen voran die albanische und die serbische Bevölkerung. Im Gegenteil: Sie hat sie noch mehr gespalten. Die serbische Gesellschaft bleibt auch in dieser Pandemiesituation unter dem Einfluss Serbiens und befolgt die Präventionsvorgaben des Nachbarlandes. Virenproben werden zur Auswertung nach Serbien geschickt. Im Falle von erforderlichen Behandlungen werden die Angehörigen der serbischen Minderheit ins Krankenhaus nach Serbien gebracht. Ein freiwilliges Team von Ärzt*innen aus Serbien wurde in die serbischen Gemeinden des Kosovo entsandt. Die infizierten Fälle aus Nord-Mitrovica werden dem Kosovo auch nicht gemeldet und erscheinen daher nicht in den offiziellen Daten.

Wie gestaltet das forumZFDTeam die Friedensarbeit seit der Krise?

Das forumZFD und seine Partnerorganisationen arbeiten auch von zu Hause aus. Da unsere Arbeit hauptsächlich aus persönlichen Treffen und Veranstaltungen besteht, können viele Projekte derzeit nicht realisiert werden. Auch die lokalen und internationalen Mitarbeitenden des forumZFD und seiner Partnerorganisationen sind persönlich von der Krise betroffen. Und jeder Mensch geht anders damit um.

Doch es gibt auch Projekte, die während der COVID-19-Beschränkungen fortgesetzt werden können. Die nächste Ausgabe des Magazins Balkan.Perspectives, das sich mit Themen der Vergangenheitsarbeit in der Region befasst, erscheint im Mai.

Darüber hinaus überlegt das Team derzeit, wie die ursprünglichen Projektideen angepasst werden können, um sie im virtuellen Raum umzusetzen. Unter anderem wird die Veröffentlichung weiterer Zeitzeugenberichte von Menschen, die seit dem Krieg von 1999 Familienmitglieder vermissen, vorbereitet. Dies geschieht in Kooperation mit der Zeitung Koha Ditore und dem Nachrichtenportal koha.net.

In Kürze soll ein Online-Training zu Peer-Mediation und friedlicher Konfliktlösung beginnen. Es richtet sich an Jugendliche, Studierende, Mitarbeitende zivilgesellschaftlicher Organisationen und Freiwillige und ist Teil unseres Projekts zur Stärkung von Peer-Mediation in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Das Team bereitet weitere Online-Formate vor, um in Zeiten der Kontaktsperre die Debatten um die Aufarbeitung der Vergangenheit im Kosovo fortzuführen.

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