"Demokratie ist kein Selbstläufer"

Konfliktbearbeitung und Teilhabe in Mecklenburg-Vorpommern

Mit Kommunaler Konfliktberatung unterstützt Pro Peace Städte und Gemeinden dabei, konstruktiv mit Konflikten umzugehen. Damit wollen wir nicht nur das Zusammenleben vor Ort verbessern, sondern auch einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie leisten. Denn unbearbeitete Konflikte führen zu Unzufriedenheit und sind ein Nährboden für Radikalisierung und Extremismus. Besonders spürbar ist das im Moment in Mecklenburg-Vorpommern. Deshalb hat Pro Peace in den vergangenen Jahren sein Engagement dort intensiviert. Dabei können wir auf starke Strukturen und die Arbeit engagierter Menschen aufbauen. Ein Ortsbesuch.
Großer Dreesch
© Pro Peace

„Abgehängt“ ist ein Begriff, der einem im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Konflikten in Mecklenburg-Vorpommern oft begegnet. Bereits die Anreise über Hamburg nach Schwerin illustriert dieses Gefühl: 100 Kilometer, zweieinhalb Stunden, drei Regionalzüge – so die Eckdaten der Verbindung in die Landeshauptstadt. 

Wenn man mehr über die Konflikte im Land erfahren will, ist der Städte- und Gemeindetag eine gute Adresse. Ein modernes Bürogebäude in der weniger modernen Plattenbausiedlung Großer Dreesch am Rande von Schwerin. Der Städte- und Gemeindetag ist so etwas wie die Interessenvertretung der Bürgermeister*innen im Land. Und deren Sorgen und Nöte nehmen zu, berichtet Sprecherin Susanne Miosga: „Der Ton in den Stadt- und Gemeindevertretungen wird einfach rauer. Es geht nicht mehr um gute Sacharbeit, sondern nur noch darum, wer am lautesten ist. Respekt und Fairness bleiben häufig auf der Strecke.“ 

In der Plattenbausiedlung "Großer Dreesch" (im Bild oben) am Rande von Schwerin ist der Kisok an der Haltestelle Stauffenbergstraße eine Begegnungsstätte.

Susanne Miosga: "Der respektvolle Umgang wird massiv gestört."

Insbesondere beim Thema Migration seien konstruktive Debatten kaum noch möglich. „Der respektvolle Umgang, den es braucht, um gute Entscheidungen für die Bürgerinnen und Bürger zu treffen, wird massiv gestört“, berichtet Miosga. Immer öfter werden Mandatsträger* innen angegriffen. In Greifswald konnte Oberbürgermeister Stefan Fassbinder 2024 eine Bürgerschaftssitzung nur unter Polizeischutz abhalten. In Neubrandenburg schmiss sein Amtskollege ganz hin – auch um sein privates Umfeld zu schützen. Die massiven Anfeindungen seien Grund zur Sorge, mahnt Miosga: „Das sind Angriffe auf die Demokratie und auf unsere Werte.“ 

„Nur eine Morddrohung in dreieinhalb Jahren“ 

Und das sind nur die prominenteren Fälle. Gerade in kleinen Gemeinden sind es dagegen oft Ehrenamtliche, die diese Konflikte austragen. „Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass das Menschen sind, die das in ihrer Freizeit machen“, schlägt Miosga Alarm. „Die Gefahr ist, dass diese Leute irgendwann keine Lust mehr haben und dann Gruppierungen übernehmen, die nicht gerade demokratiefreundlich sind.“ 

Die Parteien, auf die Miosga anspielt, haben schon jetzt an Bedeutung gewonnen. Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr ist die AfD in vielen Gemeindevertretungen stärkste Kraft geworden, dazu kommen mancherorts Gruppen wie die NPD-Nachfolgepartei Die Heimat. Bei der Landtagswahl 2026 wollen nach aktuellen Umfragen 38 Prozent der Wählenden ihre Stimme der AfD geben. Der Handlungsspielraum für demokratische Parteien schrumpft. Die Brandmauer bröckelt. 

Bürgermeister Rico Reichelt ist seit 2022 im Amt: "Wir kriegen auch Kompromisse hin."

Kleinstadt-Idyll: Der historische Marktplatz in Boizenburg an der Elbe

Das hat auch Rico Reichelt zu spüren bekommen. Reichelt ist Bürgermeister von Boizenburg an der Elbe. Kleinstadt-Idyll: Am historischen Marktplatz sitzen Senior*innen in der Sonne und essen Mandarinenschnitte. Nebenan servieren Menschen mit Behinderung im Café des Lebenshilfswerks erstklassigen Brathering. „Ich habe jetzt in dreieinhalb Wenn man mehr über die Konflikte im Land erfahren will, ist der Städte- und Gemeindetag eine gute Adresse. Ein modernes Bürogebäude in der weniger modernen Plattenbausiedlung Großer Dreesch am Rande von Schwerin. Der Städte- und Gemeindetag ist so etwas wie die Interessenvertretung der Bürgermeister*innen im Land. Und deren Sorgen und Nöte nehmen „Abgehängt“ ist ein Begriff, der einem im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Konflikten in Mecklenburg-Vorpommern oft begegnet. Bereits die Anreise über Hamburg nach Schwerin illustriert dieses Gefühl: 100 Kilometer, zweieinhalb Stunden, drei Regionalzüge – so die Eckdaten der Verbindung in die Landeshauptstadt. Jahren nur eine Morddrohung erhalten“, erzählt Reichelt gelassen. „Das ist im Vergleich zu anderen Kollegen hier in der Region kein schlechter Schnitt.“ Reichelt, gebürtiger Rügener, kam 2022 als Ortsfremder nach Boizenburg und wurde mit Haustürwahlkampf und linken Ideen zum Bürgermeister gewählt. Als solcher übernahm er eine Stadt, die harmonisch und politisch aktiv wirkte. Als Russland die Ukraine angriff, kamen hier auf dem Marktplatz spontan rund 400 Menschen zum friedlichen Protest zusammen. 

Pro Peace half, Vertrauen zurückzugewinnen 

Doch in der Stadtvertretung schwelten alte Konflikte. Reichelt nahm Kontakt zu Pro Peace auf – eher präventiv eigentlich. „Wir haben gedacht, die alten Konflikte können jederzeit wieder aufbrechen“, erinnert sich der Bürgermeister. Und er behielt recht. Nach der Kommunalwahl 2024 kam es zum Eklat: Entgegen vorangegangener Absprachen ließ sich ein Stadtvertreter der CDU mit Stimmen der AfD und der rechtsextremen Gruppe Heimat und Identität zum Bürgervorsteher wählen. Der Fall machte überregional Schlagzeilen. „Streit um Brandmauer in Boizenburg“, titelte der NDR. 

„Das hat natürlich die übrigen demokratischen Fraktionen komplett auf die Zinne gebracht“, erzählt Reichelt. „Wie ich finde, auch nachvollziehbar.“ Danach waren die Fronten verhärtet. Auch das Image der Stadtvertretung war durch die Streitereien ziemlich ramponiert. Im Rahmen einer geschlossenen Runde mit Bürgermeister, Bürgervorsteher und Fraktionsvorsitzenden analysierte Pro Peace die Konflikte und erarbeitete gemeinsam mit den Verantwortlichen konkrete Handlungsoptionen. 

„Wir versuchen jetzt, verloren gegangenes Vertrauen durch ruhige, sachliche Arbeit wiederzugewinnen“, sagt Reichelt. Der Beratungsprozess war für ihn vor allem auch ein wichtiges Zeichen an die Bürger*innen: „Egal wie groß der Konflikt ist: Es hilft immer, darüber zu sprechen. Wir müssen den Leuten zeigen: Wir kriegen auch Kompromisse hin.“ Heute ist aus Sicht des Bürgermeisters die Stimmung bei den Versammlungen in Boizenburg konstruktiv und wertschätzend. Auch wenn die Themen nicht immer einfach sind. 

Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken 

In Mecklenburg-Vorpommern hat man schon vor langer Zeit erkannt, dass diese demokratische Kultur nicht selbstverständlich ist. Um sie zu fördern, haben CDU, SPD und Linkspartei 2006 das Landesprogramm „Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!“ ins Leben gerufen. Kurz zuvor war die NPD erstmals in den Schweriner Landtag eingezogen. 

Der Schweriner Landtag: Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!

In Torgelow gibt es zahlreiche Initiativen, um Menschen verschiedener Kulturen zusammenzubringen und Vorbehalte zu überwinden: integrative Cafés, Grillfeste und ein gemeinsamer Frühjahrsputz. Darauf kann die Konfliktberatung aufbauen. Der Prozess befindet sich in einer spannenden Phase: Im Sommer hat Pro Peace Vertretenden der Stadtgesellschaft seine Analyse vorgestellt. Ein gemeinsam erarbeitetes Handlungskonzept zielt darauf ab, das friedliche Zusammenleben in Torgelow zu fördern. Bürgermeisterin Kerstin Pukallus zieht ein positives Zwischenfazit: „Wichtiges Anliegen der Kommune war es, einen ehrlichen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Dieser kritische Blick von außen hilft mir und meinen Mitstreitern dabei, auch aus einer anderen Richtung zu gucken. Das hilft uns zu erkennen: Wir sind gut, aber noch nicht gut genug.“ Wieder im Zug zurück nach Köln. Was nehmen wir von dem Ortsbesuch in Mecklenburg- Vorpommern mit? Zunächst den Eindruck: Mancherorts scheint aus dem Gefühl des Abgehängtseins ein Misstrauen gegenüber demokratischen Strukturen gewachsen zu sein. 

Demokratiefeindliche Gruppen machen sich das zu eigen und behindern aktiv die sachliche Arbeit in den Kommunen. Aber die vielen engagierten Menschen in Orten wie Boizenburg, Ludwigslust und Torgelow zeigen auch, wie sich verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen lässt, wenn Konflikte ernst genommen und konstruktiv bearbeitet werden. Aktive Konfliktbearbeitung stärkt die demokratischen Strukturen. Das ist angesichts des Erstarkens antidemokratischer Kräfte wichtiger denn je. Denn, wie es Susanne Miosga vom Städte- und Gemeindetag schön zusammengefasst hat: „Demokratie ist kein Selbstläufer.“ Ute Neumann hat ihr Büro gleich gegenüber dem Landtag in einem Altbau mit Blick auf den Schlosspark. Als Leiterin der Landeskoordinierungsstelle für Demokratie und Toleranz laufen bei ihr die verschiedenen Maßnahmen des Landesprogramms zusammen. „Natürlich haben sich die Herausforderungen verändert“, stellt Neumann fest. „Aber das war damals schon kein Programm zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, sondern man hat sich ganz bewusst dafür entschieden, zivilgesellschaftliche demokratische Strukturen zu stärken.“ 

Ute Neumann leitet die Koordinierungsstelle Demokratie und Toleranz.

Nur wie kann das gelingen? Ein zentrales Element sind die fünf Regionalzentren für demokratische Kultur. Sie sollen dafür sorgen, dass die Angebote die Menschen erreichen – auch im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern. Einzelpersonen, Vereine, Schulen oder auch Kommunen können sich hierhin wenden, wenn sie einen Beratungsbedarf haben. Die Landeskoordinierungsstelle bündelt auch die Aktivitäten unterschiedlicher Anbieter von Beratung in der Region. Sie ist deshalb für Pro Peace ein wichtiger Partner, etwa um Kontakt zu Kommunen herzustellen. 

Zum Beispiel auf dem Bürgermeisterfachtag. Den veranstaltet die Landeskoordinierungsstelle einmal im Jahr gemeinsam mit dem Städteund Gemeindetag. Hier können sich Verantwortliche aus Kommunen im vertraulichen Rahmen über aktuelle Herausforderungen austauschen und Strategien entwickeln – etwa zum Umgang mit Anfeindungen. Oft geht es dabei um die Unterbringung von Geflüchteten, aber auch um ganz andere Themen wie ein Windrad oder eine neue Schweinemastanlage. Konflikte seien ja legitim, so Ute Neumann, aber wichtig sei, wie die Diskussionen geführt würden. Zum Beispiel müsse vor Bürgerveranstaltungen geklärt werden, wer bei Störaktionen oder demokratiefeindlichen Äußerungen interveniere. Oft fehlten den Kommunen schlicht die Ressourcen, um mit Konflikten umzugehen.

In enger Zusammenarbeit mit der Landeskoordinierungsstelle versucht Pro Peace in Mecklenburg-Vorpommern, diese Lücke zu schließen. Zum Beispiel in der Kleinstadt Ludwigslust, wo Pro Peace von 2015 bis 2020 dabei half, durch nachhaltige Integration sozialen Zusammenhalt zu fördern. „Der Beratungsprozess hat in Ludwigslust einen Nachhall gefunden“, erinnert sich Ute Neumann. „Die Arbeit von Pro Peace war in der Region ein gutes Beispiel, auf das wir verweisen konnten.“ Es hat gezeigt, wie Konfliktberatung demokratische Strukturen im ländlichen Raum unterstützen und fördern kann. 

Begegnungsstätte im Zentrum der Altstadt: der Marktplatz in Schwerin.

Unterbringung von Geflüchteten sorgte für Spannungen 

Rund 200 Kilometer westlich von Ludwigslust liegt Torgelow. Auch hier hat die Unterbringung von Geflüchteten für Spannungen gesorgt, vor allem als 2022 rund 300 Menschen aus der Ukraine hier Zuflucht fanden. Die unterschiedlichen migrantischen Gruppen standen zunehmend in Konkurrenz zueinander und in der Stadt nahm ein Gefühl von Unsicherheit zu. Die beiden Konfliktberaterinnen Nadja Gilbert und Antonie Armbruster-Petersen arbeiten seit 2023 im Auftrag von Pro Peace zusammen mit der Stadtgesellschaft daran, Lösungsansätze zu finden. 

Dabei haben beide die Erfahrung gemacht, dass es in Torgelow schon unheimlich viele Ideen gibt. „Wir unterschätzen oft, was hier schon alles geht“, betont Nadja Gilbert. Stadtvertreter der CDU mit Stimmen der AfD und der rechtsextremen Gruppe Heimat und Identität zum Bürgervorsteher wählen. Der Fall machte überregional Schlagzeilen. „Streit um Brandmauer in Boizenburg“, titelte der NDR. „Das hat natürlich die übrigen demokratischen Fraktionen komplett auf die Zinne gebracht“, erzählt Reichelt. „Wie ich finde, auch nachvollziehbar.“ Danach waren die Fronten verhärtet. Auch das Image der Stadtvertretung war durch die Streitereien ziemlich ramponiert. Im Rahmen einer geschlossenen Runde mit Bürgermeister, Bürgervorsteher und Fraktionsvorsitzenden analysierte Pro Peace die Konflikte und erarbeitete gemeinsam mit den Verantwortlichen konkrete Handlungsoptionen. „Wir versuchen jetzt, verloren gegangenes Vertrauen durch ruhige, sachliche Arbeit wiederzugewinnen“, sagt Reichelt. Der Beratungsprozess war für ihn vor allem auch ein wichtiges Zeichen an die Bürger*innen: „Egal wie groß der Konflikt ist: Es hilft immer, darüber zu sprechen. Wir müssen den Leuten zeigen: Wir kriegen auch Kompromisse hin.“ Heute ist aus Sicht des Bürgermeisters die Stimmung bei den Versammlungen in Boizenburg konstruktiv und wertschätzend. Auch wenn die Themen nicht immer einfach sind. 

Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken 

In Mecklenburg-Vorpommern hat man schon vor langer Zeit erkannt, dass diese demokratische Kultur nicht selbstverständlich ist. Um sie zu fördern, haben CDU, SPD und Linkspartei 2006 das Landesprogramm „Demokratie und Toleranz gemeinsam stärken!“ ins Leben gerufen. Kurz zuvor war die NPD erstmals in den Schweriner Landtag eingezogen. In Torgelow gibt es zahlreiche Initiativen, um Menschen verschiedener Kulturen zusammenzubringen und Vorbehalte zu überwinden: integrative Cafés, Grillfeste und ein gemeinsamer Frühjahrsputz. Darauf kann die Konfliktberatung aufbauen. 

Antonie Armbruster-Petersen (l.) und Nadja Gilbert (r.)  arbeiten als Konfliktberaterinnen in Torgelow.

Der Prozess befindet sich in einer spannenden Phase: Im Sommer hat Pro Peace Vertretenden der Stadtgesellschaft seine Analyse vorgestellt. Ein gemeinsam erarbeitetes Handlungskonzept zielt darauf ab, das friedliche Zusammenleben in Torgelow zu fördern. Bürgermeisterin Kerstin Pukallus zieht ein positives Zwischenfazit: „Wichtiges Anliegen der Kommune war es, einen ehrlichen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Dieser kritische Blick von außen hilft mir und meinen Mitstreitern dabei, auch aus einer anderen Richtung zu gucken. Das hilft uns zu erkennen: Wir sind gut, aber noch nicht gut genug.“ 

Wieder im Zug zurück nach Köln. Was nehmen wir von dem Ortsbesuch in Mecklenburg- Vorpommern mit? Zunächst den Eindruck: Mancherorts scheint aus dem Gefühl des Abgehängtseins ein Misstrauen gegenüber demokratischen Strukturen gewachsen zu sein. Demokratiefeindliche Gruppen machen sich das zu eigen und behindern aktiv die sachliche Arbeit in den Kommunen. Aber die vielen engagierten Menschen in Orten wie Boizenburg, Ludwigslust und Torgelow zeigen auch, wie sich verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen lässt, wenn Konflikte ernst genommen und konstruktiv bearbeitet werden. Aktive Konfliktbearbeitung stärkt die demokratischen Strukturen. Das ist angesichts des Erstarkens antidemokratischer Kräfte wichtiger denn je. Denn, wie es Susanne Miosga vom Städte- und Gemeindetag schön zusammengefasst hat: „Demokratie ist kein Selbstläufer.“