
Podiumsgäste
Luna Watfa (Journalistin)
Fadwa Mahmoud (Families for Freedom)
Antonia Klein (European Center for Constitutional and Human Rights)
Zur Themenwoche „Frieden für Syrien“
Gerade noch hatte Fadwa Mahmoud mit ihrem Sohn gesprochen. Zu Hause bereitete sie das Mittagessen zu und warte auf ihn und ihren Mann. Doch auf einmal waren beide verschwunden. Spurlos. Lebenszeichen gab es nicht. Und sie sollten niemals auftauchen. Denn 2012 wurden Fadwa Mahmouds Mann und Sohn verhaftet. Bis heute weiß sie nicht, wo die beiden sind und wie es ihnen geht. 2017 gründete sie schließlich mit fünf anderen Frauen „Families for Freedom“ (Familien für Freiheit).
Heute unterstützen mehr als 100 Frauen die Bewegung. „Wir glauben daran, dass die Arbeit von allen gemeinsam stärker ist als die Arbeit einzelner“, sagt Fadwa Mahmoud über das Kollektiv. Gemeinsam fordern sie, dass sie Auskünfte über den Verbleib ihrer Angehörigen erhalten. Sie fordern politische Akteur*innen weltweit auf, sich für ihre Forderungen einzusetzen und die Täter*innen zu bestrafen. „Wir als Angehörige fordern, dass das gesamte Regime bestraft wird. Denn nicht nur eine Person ist schuldig, das gesamte Regime ist schuld“, sagt Fadwa Mahmoud.
Seit April 2020 stehen nun in Koblenz zwei Angehörige des syrischen Regimes vor einem deutschen Gericht. Es ist der erste Prozess überhaupt, der die Taten des Regimes als Verbrechen gegen die Menschlichkeit behandelt. Fadwa Mahmoud misst ihm daher eine große Bedeutung zu. Es sei ein erster Schritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Davon sind auch Antonia Klein vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und die Journalistin Luna Watfa überzeugt. Alle drei verfolgen den Prozess in Koblenz genau.
Aufzeichnung des Online-Gesprächs vom 19.11.2020
Angeklagt sind dort Anwar R. und Eyad A. Beide sollen als Mitarbeiter des allgemeinen syrischen Geheimdienstes in der Umgebung von Damaskus in der Abteilung 251, auch Al-Khatib-Abteilung genannt, tätig gewesen sein. Dem Hauptangeklagten Anwar R. wird vorgeworfen, dass unter seiner Leitung gefoltert wurde. So soll er für Folter an mindestens 4000 Menschen verantwortlich gewesen sein. Mindestens 58 Fälle seien Morde oder Tötungen. „Ihm wird auch sexualisierte Gewalt vorgeworfen – bisher nur als Einzelfälle sexuelle Nötigung und Vergewaltigung. Unserer Meinung nach sollte es aber auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt werden, weil es systematischen Charakter hat“, sagte Antonia Klein. Der zweite Angeklagte Eyad A. ist wegen Beihilfe zur Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt.
Weltrechtsprinzip ermöglicht Prozess
Aber warum findet der Prozess in Deutschland statt? Die Täter*innen und Opfer sind syrische Staatsangehörige, die mutmaßlichen Verbrechen fanden dort statt. Dennoch ist eine juristische Aufarbeitung im Ausland möglich, erklärte Antonia Klein: „Hier geht es um Taten, die das Regime selbst begangen haben soll, und Assad leugnet, dass Folter durch syrische Geheimdienstmitarbeitende begangen worden ist.“ Eigentlich gebe es für solche Fälle den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Dieser sei jedoch nur zuständig, wenn der Staat, um den es gehe, Mitglied im sogenannten Rom-Statut sei, welches den internationalen Strafgerichtshof konstituiert. Das Problem: Nur rund 120 Staaten haben dieses Statut ratifiziert. Sehr wichtige Staaten haben dies nicht getan. Darunter sind die USA und Russland, aber auch der Iran und Syrien. Auch eine Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat an den Internationalen Strafgerichtshof ist nicht möglich, weil Russland und China dies durch ihr Veto verhindern.
Die vollständige Dokumentation der Pro Peace-Themenwoche „Frieden für Syrien“ können Sie hier herunterladen.
Dass der Prozess dennoch möglich ist, liegt am sogenannten Weltrechtsprinzip. Antonia Klein erläutert: „Man geht davon aus, dass bei besonders schweren Straftaten die gesamte internationale Staatengemeinschaft betroffen ist. Deswegen können dritte Staaten selbst dann tätig werden, wenn keine unmittelbare Verbindung zu den Taten besteht, die begangen worden sind.“ Damit ein deutscher Staatsanwalt ermitteln könne, bedürfe es zudem noch einer Umsetzung ins deutsche Recht. Dies sei mit dem Völkerstrafgesetzbuch geschehen, das 2002 in Kraft getreten ist und die Regeln des Rom-Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof mehr oder weniger ins deutsche Recht übertragen habe. „Das ist wichtig, weil nicht in jedem Staat das Weltrechtsprinzip ins nationale Recht umgesetzt worden ist. Deswegen können de facto nicht alle Staatsanwälte in allen möglichen Staaten tätig werden“, erklärte Antonia Klein.
Prozess bringt Grausamkeit ans Licht
Von der Folter mit Elektrokabeln und Stöcken über Vergewaltigungen bis hin zu desaströsen hygienischen Bedingungen und einer fehlenden medizinischen Versorgung: Im Prozess werden Zustände wie diese bis ins Detail beschrieben. „Auch wenn wir viel durchlebt haben, war dies dennoch schockierend. Es bleibt die Tatsache, dass das Ausmaß der Verbrechen, die dort stattfinden, selbst für uns als Syrer*innen manchmal unvorstellbar ist“, sagte Luna Watfa über die Schilderungen.
Eine Aussage sieht Antonia Klein als besonders wichtig an. So berichtete ein Zeuge, ihm sei befohlen worden, Leichen von den Militärkrankenhäusern zu Massengräbern zu bringen. „Er konnte deswegen sehr detailliert beschreiben, wie viele Leichen, nämlich Hunderte in der Woche, transportiert worden sind und wie der Zustand der Leichen war. Er hat ganz ausdrücklich Folterspuren gesehen und diese auch beschreiben können. Das waren sehr grausame Einzelheiten, die da berichtet worden sind. Aber gleichzeitig ist durch diese Aussage das Ausmaß dieser Verbrechen sehr, sehr deutlich“, sagte sie.
Fadwa Mahmoud ist den Zeug*innen dankbar, dass sie vor Gericht aussagen. Denn es sei für eine Person, die gefoltert oder misshandelt wurde, nicht einfach, vor ihrem Peiniger auszusagen. Das bringe alle Erinnerungen zurück. Dennoch reiche dieser Prozess nicht aus. Die Anklage von Anwar R. und Eyad A. sei nur ein Schritt auf dem richtigen Weg zur Gerechtigkeit.
Den Prozess dokumentieren
„Auch wenn wir nicht sehen können, dass das den syrischen Konflikt auch nur im Geringsten aufarbeitet, ist es trotzdem so, dass schon einmal ein Bruchteil des Konfliktes hier vor Gericht verhandelt und auch dokumentiert wird. Zum ersten Mal überhaupt wird öffentlich so intensiv über diese ganzen Verbrechen gesprochen. Und zwar in einem öffentlichen Forum, in einem Gericht“, sagte Antonia Klein.
Frieden braucht Sie!
Danke für Ihre Unterstützung
Luna Watfa fügte hinzu, dass solche Prozesse zu syrischen Kriegsverbrechen notwendig seien, um ein neues Syrien aufzubauen. Ihre Rolle sieht sie daher vor allem in der Dokumentation des Prozesses. Deshalb begleitet die Journalistin jeden Verhandlungstag. Als ehemalige politische Gefangene der Abteilung 251 wisse sie aus eigener Erfahrung, wovon Überlebende als Zeug*innen oder Nebenkläger*innen sprechen. Dennoch bemühe sie sich in ihrer Berichterstattung um Unparteilichkeit, wenn es darum gehe, den Syrer*innen zu vermitteln, was in diesem Prozess passiere. „Weil ich diese Erfahrungen gemacht habe, weiß ich sehr gut, wie wichtig es ist, dass andere wissen, was hier passiert. Weil sie nicht an den Anhörungen teilnehmen können und weil sie so wie ich nach Gerechtigkeit streben“, erklärte sie.
„Wir sehen unsere Rolle jetzt vor allem darin, die Rechte der Betroffenen zu stärken. Wir sehen und wollen auch immer wieder deutlich machen, dass es hier um ein Verfahren geht, in dem primär Syrer*innen betroffen sind. Das bedeutet, dass wir zu jeder Zeit Syrer*innen einbinden müssen, wenn es um das Verfahren und die Arbeit darum geht“, sagte Antonia Klein über die Arbeit des ECCHR.
Sprachprobleme als Hindernis
Doch es gibt Schwierigkeiten. So erzählte Fadwa Mahmoud: „Ich habe den Prozess 15 bis 20 Minuten verfolgt, dann aber verlassen, weil ich nichts verstanden habe. Alles war auf Deutsch.“ Antonia Klein kritisierte ebenfalls, dass die Öffentlichkeit, die im Saal sitze, keinen Zugang zu einer arabischen Übersetzung habe. Nach einer Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht solle nun akkreditierten Journalist*innen Zugang gewährt werden. Doch den Akkreditierungsprozess hätten die meisten arabischsprachigen Journalist*innen verpasst, weil anfangs nicht klar gewesen sei, ob es eine Übersetzung gebe. Ein weiteres Defizit sehe sie darin, dass der gesamte Akkreditierungsprozess auf Deutsch gewesen sei.
Watfa bestätigte das Sprachproblem. „Ich bin die einzige syrische Journalistin, die bei jeder Gerichtssitzung dabei ist. Ich sage nicht, dass ich um eine Ausnahme bitte. Aber das Gericht hätte flexibler sein können.“ Sie verstehe, dass der Prozess in Deutschland stattfinde, glaubt aber, dass das Gericht die Tatsache nicht verstehe, dass die wichtigste Bedeutung in diesem Prozess die Syrer*innen selbst haben und dass viele von ihnen tatsächlich den Prozess verfolgen wollen.
Forderung nach mehr Engagement
„Ich hoffe, dass es weitere Prozesse geben wird. Ich bin der Meinung, dass jeder Kriegsverbrecher in Syrien bestraft werden muss. Ich würde mich freuen, wenn jeder bestraft wird. Wie alle Angehörigen wünsche ich mir auch die Freilassung aller Inhaftierten“, sagte Fadwa Mahmoud. Es schmerze sie, dass Anwar R. ein ordentliches Verfahren in Deutschland bekomme, während Inhaftierte in Syrien keinen fairen Prozess erhielten, sondern gefoltert oder exekutiert worden seien. Daher forderte sie alle auf, sich zu engagieren. So solle sich unter anderem Deutschland für die Aufarbeitung der Verbrechen und die Freilassung der politischen Gefangenen einsetzen. Es gelte etwa, Russland im UN-Sicherheitsrat unter Druck zu setzen.
Auch Luna Fatwa fordert ein größeres Engagement. Sie bittet daher alle, zumindest die Informationen aus dem Prozess zu teilen, damit mehr Menschen Bescheid wissen. Da nicht mehr so viele syrische Geflüchtete kämen, seien der Krieg in Syrien und die Verbrechen des Regimes aus der öffentlichen Diskussion verschwunden, glaubt Antonia Klein. Es seien aber weiterhin Menschen verschwunden. Man müsse daher am Thema bleiben, darüber diskutieren, durch Kunstaktionen darauf aufmerksam machen und den Diskurs aufrechterhalten, damit es zu einer Veränderung der Situation in Syrien kommen könne.