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Ein Virus - zwei Realitäten

Friedensarbeit in Israel und Palästina in Zeiten der Pandemie

Unsere Kolleg*innen in Jerusalem blicken auf ein Jahr der Arbeit unter besonderen Umständen zurück. Ein Jahr geprägt von Unsicherheiten, Sorgen und steigenden Spannungen – aber auch mit Momenten der Kreativität, Verbundenheit und Hoffnung. Kraft schöpften sie vor allem aus dem Austausch im Team und mit den Partner*innen, die trotz allem optimistisch und aktiv blieben.
Damaskustor Jerusalem
© luna Vieira

Anfang März 2020 trafen sich vier internationale Kolleg*innen unseres Israel-/Palästina-Büros zu einem letzten Spaziergang durch die Altstadt Jerusalems. Die sonst so überfüllten Gassen, die Massen an Tourist*innen und Pilger*innen, die Straßenverkäufer*innen, die lautstark für ihre Souvenirs werben – all das war aus der Altstadt verschwunden. Stattdessen fanden sich unsere Kolleg*innen in einer gefühlten Geisterstadt wieder, mit geschlossenen Geschäften, hoher Polizeipräsenz und Straßensperren rund um die religiösen Stätten. Die ersten Tage und Wochen des Lockdowns sorgten für viel Ungewissheit. Wir alle hatten noch keine Ahnung davon, wie lange dieses Gefühl ein Teil unseres Lebens bleiben würde. Ein Jahr später blicken unsere Kolleg*innen in Jerusalem auf diese außergewöhnliche Zeit zurück. Dies sind ihre Eindrücke:

Nach dem ersten Lockdown von März bis Mai 2020 setzten die meisten von uns lange keinen Fuß mehr in die Altstadt von Jerusalem. Monatelang waren die Tore der Stadt für alle außer den Anwohner*innen geschlossen. Erst im März 2021 kehrten wir zurück, um unsere Lieblingsläden, die wieder öffnen konnten, zu besuchen. Vieles hat sich verändert. Durch den fehlenden Tourismus mussten einige unserer Lieblingsrestaurants dauerhaft schließen. Die Souvenirverkäufer*innen haben sich daran gewöhnt, dass das internationale Publikum, das sich hier noch rumtreibt, nicht die typischen Tourist*innen sind und daher keine ideale Kundschaft darstellen. Nichtsdestotrotz ist das Leben in die Altstadt zurückgekehrt, und außer den maskierten Gesichtern kann man den Unterschied kaum bemerken.

Als der erste Lockdown angekündigt wurde, verließen viele Kolleg*innen des Zivilen Friedensdienstes, Mitarbeitende von ausländischen Konsulaten, internationale Studierende und Nachrichtenkorrespondent*innen das Land. In unserem Pro Peace-Team konnte jede*r für sich entscheiden zu bleiben oder ins Heimatland zurückzukehren. Die meisten von uns beschlossen zu bleiben und so erlebten wir direkt mit, wie sich dieses außergewöhnliche Jahr auf die politische Situation, unsere Arbeit und unser persönliches Leben auswirkte.

Die Corona-bedingten Einreisebeschränkungen nach Israel gelten auch für palästinensische Berufspendler*innen.

Pandemie verschärft Spannungen

Die Pandemie traf Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete gleichermaßen schwer, und doch schuf sie zwei verschiedene Realitäten. In Israel wurden seit Beginn der Pandemie 829.832 Infektionen und 6.131 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet. In den besetzten palästinensischen Gebieten wurden 258.297 Infektionen und 2.751 Corona-bedingte Todesfälle registriert (Stand April 2021). Medienberichten zufolge ist die Dunkelziffer jedoch deutlich höher. Sowohl in Israel als auch in den palästinensischen Gebieten wurde insgesamt drei Mal ein Lockdown verhängt. Aufgrund niedriger Infektionszahlen wurden in den Sommermonaten Schulen, Geschäfte und Restaurants wieder geöffnet. Dies erwies sich als schwerwiegender Fehler, da die Infektionsraten in den folgenden Monaten ihren Höhepunkt erreichten.

Obwohl Israel wirtschaftlich stark von der Krise betroffen war, stabilisiert sich die Arbeitslosenquote derzeit. 54 Prozent der israelischen Bevölkerung, einschließlich der palästinensischen Bewohner*innen Jerusalems, haben bereits zwei Impfdosen erhalten. Das alltägliche Leben normalisiert sich langsam, da Gastronomie, Fitness-Studios und sogar Konzerthallen ihre Türen für diejenigen öffnen, die einen Impfpass haben. Unterdessen steigt die Zahl der Corona-Fälle in Palästina weiter an, da Palästinenser*innen im Westjordanland und im Gazastreifen vom israelischen Impfprogramm ausgeschlossen wurden.

Als weltweit führendes Land in Bezug auf Impfungen schützt Israel seine Grenzen streng, was die Einreise für Menschen ohne israelischen Pass fast unmöglich macht. Die Einreisebeschränkungen gelten auch für Palästinenser*innen. Viele von ihnen arbeiten in Israel und pendeln täglich durch die Checkpoints. Die meisten ihrer Einreisegenehmigungen wurden seit der Krise eingefroren, sodass Tausende Familien ihre Haupteinnahmequelle verloren haben. Unterdessen schafft es das palästinensische Gesundheitssystem kaum, die vielen Patient*innen in den Krankenhäusern zu versorgen. Die Impfstoffe, die die palästinensische Regierung beschafft hat, reichen bei weitem nicht aus, um eine ganzheitliche Versorgung zu gewährleisten.

Während des ersten Lockdowns war durften sich die Menschen in Jerusalem nicht weiter als 500 Meter von ihrem Wohnsitz entfernen.

Die Krise hat die Spannungen zwischen Israelis und Palästinenser*innen verschärft. International hat die Pandemie die Debatte über Israels Verantwortung als Besatzungsmacht gegenüber den palästinensischen Bürger*innen neu entfacht. Und auch die Zersplitterung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft trat noch deutlicher zutage als zuvor. Covid-19 hat die wirtschaftliche Ungleichheit innerhalb Palästinas weiter vergrößert. Das Virus hat auch die Grenzen der Handlungsspielräume der Palästinensischen Autonomiebehörde aufgezeigt, die nach wie vor stark von der internationalen Gemeinschaft und von Entscheidungen der israelischen Regierung abhängig ist.

Persönliche Treffen müssen warten

Seit Beginn der Pandemie war das Pro Peace-Büro in Jerusalem entweder ganz geschlossen oder nach einem rotierenden Zeitplan besetzt. Die Teammitglieder arbeiteten meist von zu Hause aus und trafen sich nur in Online-Meetings. Mittlerweile haben fast alle Mitarbeitenden bereits beide Impfungen erhalten. Dennoch ist es schwierig unsere zurückgewonnenen Freiheiten zu genießen, da wir wissen, dass unsere lokalen Partner*innen im Westjordanland nicht die gleichen Möglichkeiten haben. Zuhair, einer unserer Kollegen vor Ort, ist Anfang des Jahres ins Team gekommen. Wie Tausende von Palästinenser*innen wartet er immer noch auf eine Einreisegenehmigung, um ins Büro zu kommen und das Team persönlich zu treffen.

Für diejenigen von uns, die bereits seit einigen Jahren für Pro Peace arbeiten, war es die größte Herausforderung, unsere Partner*innen im Westjordanland nicht besuchen zu können. Viele Aspekte unserer Arbeit erfordern eine tiefe zwischenmenschliche Verbindung und einen sicheren Raum für Austausch. Es ist deutlich schwieriger, dieses Vertrauen virtuell herzustellen.

Lichtblicke in düsteren Zeiten

Es gab aber auch hoffnungsvolle Momente. Im Februar 2020 führte unsere Kollegin Jana gerade ein neuntägiges Training zur gewaltfreien Kommunikation mit der Partnerorganisation „Combatants for Peace“ durch, als die Pandemie den Workshop jäh unterbrach. Nachdem sich die Nachricht verbreitete, Tourist*innen hätten das Virus nach Palästina gebracht, kündigte die Stadt Bethlehem einen Lockdown an. Zu Janas Überraschung hat diese gemeinsame Erfahrung sie und ihre Partner*innen noch enger zusammengeschweißt: „Über WhatsApp haben die Teilnehmenden sofort Kontakt miteinander aufgenommen, um nachzuhören, ob es allen gut geht. Sie tauschten die neuesten Informationen aus und unterstützten einander emotional. Da die geplanten Aktivitäten der Combatants for Peace nicht in Präsenz stattfinden konnten, wechselten wir schnell zu einem Online-Format. Die Online-Sitzungen waren nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch der gegenseitigen Unterstützung und der Solidarität – ganz im Geiste der gewaltfreien Kommunikation.“ Während der Pandemie wurde die Gruppe stetig größer. Die Online-Aktivitäten waren Lichtblicke während der düsteren Monate des Lockdowns.

Während Jana auf bestehende persönliche Kontakte zu ihren Partner*innen aufbauen konnte, war die Situation für neue Kolleg*innen bei Pro Peace ganz anders. Luis kam während des zweiten Lockdowns in Jerusalem an. Als Friedensfachkraft in einem neuen Land beginnt die Arbeit normalerweise mit Erkundung, Orientierung im Land, Treffen mit Kolleg*innen und dem Aufbauen von Kontakten. Luis berichtet: „Ich habe mein Bestes gegeben, um optimistisch zu bleiben, dass all das bald wieder möglich sein wird. Die Pandemie hat mich gelehrt, Ungewissheiten zu akzeptieren und starre Zeitpläne aufzugeben. Ich habe viele neue Möglichkeiten kennengelernt, mit denen ich Kontakte aufrechterhalten konnte. Auch über den Computer-Bildschirm konnte ich herzliche Kontakte zu meinen neuen Partner*innen und dem Team aufbauen. Kontinuierlich miteinander zu sprechen, unsere Projekte zu überarbeiten und darüber nachzudenken, wie wir trotz der Pandemie ‚in Bewegung‘ bleiben können, war eine schwierige Erfahrung – aber es hat sich definitiv gelohnt!“ Während Luis‘ positive Einstellung für unsere Online-Meetings eine große Bereicherung war, warteten wir sehnsüchtig darauf ihn persönlich kennenzulernen und in unserem Büro zu begrüßen.

Kulturszene bleibt kreativ

Obwohl die Pandemie die Reisemöglichkeiten zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten stark beeinträchtigt hat, hat sie auch unsere Kreativität angeregt, als es darum ging neue und innovative Wege für die Fortsetzung unserer Arbeit zu finden. In Haifa ist unsere Partnerorganisation Beit Hagefen ansässig, ein arabisch-jüdisches Kulturzentrum. Mit Unterstützung von Pro Peace hatten sie Anfang 2020, vor der Pandemie, einen neuen Rekord bei den Besuchszahlen erreicht. Für das Team des Kulturzentrums war es ein großer Rückschlag, als sie während des ersten Lockdowns keine Gäste mehr empfangen durften. Unsere lokale Kollegin Noa ließ sich jedoch nicht entmutigen. Gemeinsam mit dem Team von Beit Hagefen schulte sie unter anderem Lehrkräfte darin, die Angebote von Beit Hagefen an Schulen umzusetzen.

Ähnlich kreativ war unsere österreichische Kollegin Petra. Vor Ausbruch der Pandemie hatte sie in einer normalen Woche etwa drei Kulturveranstaltungen organisiert. Wie überall auf der Welt ist die Kunst- und Kulturszene auch in Israel und Palästina besonders stark von der Krise und den Schließungen betroffen. Petra wollte den Künstler*innen trotz allem einen Raum für ihre Auftritte bieten und startete das Projekt „Kunst-Umarmungen“: eine Reihe kurzer Auftritte, die über soziale Medien verbreitet wurde. Lokale und internationale Kulturschaffende reichten Videos mit Musik, Gedichten und humorvollen Beiträgen ein. Zwar konnten die Online-Veranstaltungen die echten Begegnungen bei Kulturveranstaltungen nicht ersetzen – aber sie brachten während des Lockdowns Kreativität und Inspiration in die Wohnzimmer. Die sozialen Medien ermöglichten es zudem einem breiteren Publikum, mit den Künstler*innen in Kontakt zu kommen und die Aufführungen von zu Hause aus zu genießen.

Das Leben kehrt langsam in die Altstadt von Jerusalem zurück.

Ländliche Gebiete besonders betroffen

Diese neuen und kreativen Arbeitsweisen haben unsere Hoffnung und unsere Motivation im vergangenen Jahr aufrechterhalten. Allerdings ist es wichtig zu erwähnen, dass nicht alle unsere Projekte in digitale Formate umgewandelt werden konnten. Vor der Pandemie hatten wir gerade unsere Arbeit in Masafer al Yatta begonnen, einem ländlichen Gebiet südlich der palästinensischen Stadt Hebron, im israelisch verwalteten „Bereich C“ des Westjordanlands. Die Frauen, mit denen wir arbeiten, haben keine gesicherte Strom- und Wasserversorgung und sind über kleine Dörfer verstreut. Die israelischen Behörden verweigern die Bereitstellung grundlegender Versorgungsleistungen und die palästinensischen Behörden haben in diesem Gebiet keine Befugnisse. Dies macht es natürlich deutlich schwieriger, online mit den Frauen in Kontakt zu treten. Durch den eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung sind zudem die Risiken, die mit einer Infektion einhergehen würden, noch größer.

Aufgrund der Pandemie sind nur noch wenige internationale Beobachter*innen vor Ort, um die Lage in diesen Gemeinden zu überwachen und zu dokumentieren. Auch die Aufmerksamkeit der Medien ist gering. Dies hat zu einem Anstieg der ohnehin zahlreichen Zerstörungen, unrechtmäßigen Verhaftungen von Jugendlichen durch die israelischen Behörden und der gewalttätigen Zwischenfälle mit Siedler*innen geführt. Während wir darauf hoffen, unsere geplanten Projekte bald durchführen zu können, zeigt dieses Beispiel, dass das Corona-Virus eine tiefgreifende Wirkung auf Gemeinden hat, die ohnehin stark von der Gewalt und den Spannungen betroffen sind, welche die israelische Besatzung hervorruft.

Insgesamt hat sich die Kluft des seelischen und physischen Wohlbefindens zwischen Israelis und Palästinenser*innen während der Pandemie vergrößert. Unsere Partner*innen leben in einer Realität, die viel schwieriger ist als unsere eigene, und sie lehren uns, wie wir trotz aller Unsicherheiten aktiv, motiviert und widerstandsfähig bleiben können. Sie ermutigen uns tagtäglich, noch härter zu arbeiten, Pläne für eine ungewisse Zukunft zu entwickeln, sich weiterhin in Online-Meetings mit instabiler Internetverbindung einzuwählen und uns über die Distanz und alle Umstände hinweg verbunden zu fühlen. Wir werden unsere Partner*innen weiterhin die Führung übernehmen lassen. Mit ihrer Kraft und Ausdauer ebnen sie den Weg für unsere Arbeit.

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