Friedenspolitischer Jahresrückblick

Zusammenfassung des Online-Gesprächs vom 22. Dezember 2022

2022 war ein in vielerlei Hinsicht aufwühlendes Jahr. In einer Online-Veranstaltung blickten Vertreter*innen mehrerer Friedensorganisationen zurück und diskutierten die friedens- und entwicklungspolitischen Entscheidungen der Ampelkoalition.
Symbolbild Peace Flagge
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Im Februar 2022 war die Ampelkoalition noch keine drei Monate im Amt, als sich die Ereignisse überschlugen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine versetzte die neue Bundesregierung in den Krisenmodus und veränderte auch den öffentlichen Diskurs in Deutschland. Auch in der Friedensbewegung wurde um Positionen und Antworten auf den Krieg gerungen. Wie blicken Friedensorganisationen auf das Jahr zurück? Und wie bewerten sie die friedens- und entwicklungspolitischen Entscheidungen der Bundesregierung? Diese Fragen standen am 22. Dezember bei einer Online-Veranstaltung von Pro Peace zur Diskussion.

Zu Beginn des Gesprächs berichtete Klaus Hagedorn, Geistlicher Beirat im Bundesvorstand von pax christi, von seinen Eindrücken aus zahlreichen Gesprächen mit lokalen Friedensgruppen, die er im Laufe des Jahres besucht hatte. „Es ist ein ganz starkes Mitgefühl mit den Opfern des Krieges da“, schilderte er. „Die große Frage, die ganz viele bewegt, ist: Wie kann der Krieg ein Ende finden?“ Viele Menschen in Deutschland verspürten Aussichtslosigkeit und Ohnmacht. Die Eskalation der Gewalt wecke die alte Angst aus Zeiten des Kalten Krieges vor einem Atomkrieg.

Auch die Frage nach Waffenlieferungen sei für viele Friedensaktivist*innen ein Dilemma. Als pazifistische Bewegung lehne pax christi militärische Mittel grundsätzlich ab – und doch stehe das Prinzip der Gewaltfreiheit im Widerspruch zum Selbstverteidigungsrechts eines Landes, das angegriffen wird. „Wir müssen aushalten, dass wir verschiedene Positionen in der Bewegung haben“, so Klaus Hagedorn.

Mehr Interesse an sozialer Verteidigung

Diese Dilemmata und die Suche Antworten hat auch Dr. Christine Schweitzer, Geschäftsführerin des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV), im Umfeld der Organisation wahrgenommen. Auffällig sei außerdem, wie sehr das Interesse an sozialer Verteidigung im vergangenen Jahr gestiegen sei. Dieses Konzept wurde in den 1950er und 60er Jahren entwickelt und beschreibt Methoden der nicht-militärischen Verteidigung, insbesondere im Falle eines militärischen Angriffes oder eines Putsches. Menschen, die sich Panzern in den Weg stellen, oder Lehrkräfte, die sich weigerten, neue Unterrichtspläne von Besatzungsmächten anzuwenden – all dies seien Beispiele für soziale Verteidigung, erläuterte Christine Schweitzer. Auch in der Ukraine gebe es solche Beispiele, wenngleich diese nicht als Alternative sondern als Ergänzung zur militärischen Verteidigung angewendet würden. In Deutschland wiederrum habe der BSV im vergangenen Jahr seine Anstrengungen verstärkt, um das Konzept in der breiten Öffentlichkeit bekannter zu machen.

Christoph Bongard, Leiter für Kommunikation & Politik bei Pro Peace, komplettierte die Podiumsrunde. Er betonte, wie wichtig gerade jetzt die Unterstützung der Zivilgesellschaft in der Ukraine sei. Pro Peace ist bereits seit 2017 in der Ukraine aktiv und setzt sich zusammen mit lokalen Organisationen und Aktivist*innen dafür ein, Konflikte gewaltfrei zu bearbeiten. Diese Arbeit ging auch im vergangenen Jahr weiter. Christoph Bongard betonte: „Es ist ganz wichtig, dass die Zivilgesellschaft diesen Krieg überlebt. Denn es braucht eine lebendige Zivilgesellschaft – jetzt im Krieg, aber auch nach einem Waffenstillstand.“ Eine zentrale Aufgabe für Friedensorganisationen sei es, den Spaltungen entgegenzuwirken, die durch den Krieg auch innerhalb der ukrainischen Gesellschaft zu entstehen drohten oder vertieft werden könnten. Wichtig sei es, Gesprächsräume bereitzustellen, in denen Zwischentöne, kritische Fragen und Komplexität Platz fänden.

Viel Kritik an der Zeitenwende

Nach dem Rückblick darauf, wie Friedensorganisationen das Jahr 2022 erlebt hatten, konzentrierte sich das Online-Gespräch in der zweiten Hälfte auf die friedens- und entwicklungspolitischen Weichenstellungen der Bundesregierung. Aus Publikum gab es hierzu kritische Nachfragen und Kommentare, insbesondere zur „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach dem russischen Angriff ausgerufen hatte. Auch Klaus Hagedorn von pax christi äußerte sich kritisch zu diesem Begriff und wies darauf hin, dass viele gewaltsame Konflikte wie zum Beispiel in Syrien, im Irak oder in Afghanistan nicht durch Waffen befriedet worden seien.

Christoph Bongard von Pro Peace bemängelte, dass der Diskurs in der Politik und in der Öffentlichkeit sich sehr stark auf die Frage nach Waffenlieferungen ja oder nein konzentriert habe, wodurch andere Themen untergegangen seien. Politiker*innen aller Fachrichtungen könnten mittlerweile in Talk-Shows verschiedenste Waffengattungen aufzählen. „Aber wenn es darum geht: Was ist soziale Verteidigung, zivile Krisenprävention oder Friedensförderung? Welche Instrumente und Konzepte gibt es zum Umgang mit gewaltsamen Konflikten? Was sind die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung? Da verweisen sie ganz schnell auf die Fachausschüsse. Dabei sind das doch zentrale politische Fragen: Wie schaffen wir Frieden und wie erhalten wir einen lebenswerten Planeten?“

Auch Christine Schweitzer kritisierte, dass wichtige Themen wie etwa der Kampf gegen den Klimawandel im vergangenen Jahr zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hätten. Maßnahmen in diesem Bereich seien jedoch kein „Luxusgut“, sondern eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit – und müssten von der Politik mit der entsprechenden Dringlichkeit behandelt werden.

Regierung plant Kürzungen bei Frieden und Entwicklung

Die politische Prioritätensetzung habe sich 2022 auch in konkreten Zahlen in der Haushaltsplanung niedergeschlagen, erläuterte Christoph Bongard. Das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, die Haushaltsmittel für Friedens- und Entwicklungspolitik im gleichen Maße zu steigern wie die Verteidigungsausgaben, sei nicht eingehalten worden: Während die Ausgaben für Verteidigung und für die Bundeswehr bereits deutlich erhöht wurden – Stichwort Sondervermögen – drohten bei Frieden und Entwicklung Kürzungen: „Die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung, sprich für die Jahre 2024 bis 2026, sieht eine Kürzung der Ausgaben für Entwicklung um 25 Prozent vor.“

Dies sei die falsche Weichenstellung, so Christoph Bongard – denn gerade bei Friedensförderung, Entwicklungszusammenarbeit und Diplomatie brauche es nicht weniger Geld sondern im Gegenteil neue Kraftanstrengungen. Außerdem müsse die Bundesregierung stärker auf Konfliktsensibilität achten, also darauf, wie sich politische Entscheidungen auf Konflikte auswirken und ob sie den Frieden fördern – und zwar in allen Bereichen, also zum Beispiel auch in der Energie- und Wirtschaftspolitik und in der Entwicklungszusammenarbeit. „Da gibt es viele Hausaufgaben zu tun.“

Insgesamt zeigte das Online-Gespräch, was für ein schwieriges Jahr 2022 für Frieden und Entwicklung war. Die Bilder des Krieges aus der Ukraine nahmen auch viele Menschen in Deutschland sehr mit. Zum Abschluss gab Christine Schweitzer den Teilnehmenden der Veranstaltung jedoch zumindest noch einen kleinen Hoffnungsschimmer mit hinsichtlich möglicher Proteste in Russland gegen den Krieg: Es sei immer wieder überraschend, wie schnell Dinge umschlagen und sich in eine neue Richtung entwickeln könnten. So habe zum Beispiel im Fall des Irans vor Kurzem noch niemand gedacht, dass so viele Menschen gegen das Regime und für Menschenrechte auf die Straße gehen würden. „Die Erfahrung bei zivilem Widerstand ist, dass er höchst wirksam und erfolgreich sein kann, gerade wenn es gegen die eigene Regierung geht“, so Christine Schweitzer.

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