
Europa – quo vadis? Mit schwindelerregender Geschwindigkeit baut die Europäische Union, Friedensnobelpreisträger von 2012, zurzeit menschenrechtliche Standards ab und Grenzzäune auf. Seenotretter im Mittelmeer werden juristisch drangsaliert und Menschen in vermeintlich sichere Herkunftsländer wie Afghanistan abgeschoben. Zeitgleich verstärken Deutschland und die EU ihre Kooperation mit nordafrikanischen Despoten, deren Armeen und Polizeikräfte für die EU Flüchtlinge stoppen sollen.
Die Hysterie um Menschen, die vor Kriegen, Hunger und Armut nach Europa fliehen, dominiert inzwischen auch die Entwicklungspolitik. Ab 2021 will die EU ihre Außen- und Entwicklungspolitik umbauen. Die Zeichen stehen dabei auf Abschottung und den Ausbau des Militärs – in Europa und seinen Partnerländern. Für zivile Konfliktbearbeitung fehlt hingegen das Geld.
Die Sorge, Europa könne eines Tages seine Werte verraten, wenn Menschen in größerer Zahl nach Europa flüchten, ist nicht neu. So erinnerte sich der langjährige Entwicklungsminister Erhard Eppler 2017 in einem Interview: „Ich habe Anfang der siebziger Jahre immer gesagt: Leute, wenn wir nicht mehr für Afrika machen, dann kommen wir unter einen Einwanderungsdruck, der uns zum Polizeistaat machen kann.“
Versprechen gebrochen bei Entwicklungsfinanzierung
Wenn es um Entwicklungsfinanzierung geht, ist Eppler ein Zeitzeuge: In den frühen siebziger Jahren und damit in seiner Zeit als Minister beschlossen die Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Eppler pochte von Anfang an auf eine Einhaltung dieser Zusage. Konsequenterweise trat er 1974 vom Amt des Entwicklungsministers zurück, weil sich die damalige Regierung Schmidt nicht dazu durchringen konnte, ihre internationalen Versprechen einzuhalten.
Im Grunde hat sich bis heute wenig am deutschen oder europäischen Beitrag für die Entwicklungsfinanzierung geändert: Zwar investierte Deutschland nach offiziellen Angaben 2017 immerhin 0,66 Prozent seines BNE in Entwicklung. Doch diese Zahlen sind geschönt, denn nicht alle in die Quote einberechneten Gelder fließen wirklich in nachhaltige Entwicklung. So rechnet die deutsche Bundesregierung die Kosten zur Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland mit in ihre Quote ein: Ohne diesen Zahlentrick, der auch vom Dachverband der Entwicklungsorganisationen in Deutschland (VENRO) kritisiertwurde, bleiben nur noch rund 0,5 Prozent des BNE für Entwicklungszusammenarbeit übrig.
Verteidigungsausgaben sollen deutlich steigen
Während das Thema Entwicklungsfinanzierung medial kaum eine Rolle spielt, beherrscht die Diskussion um eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben seit dem Amtsantritt des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump regelmäßig die Schlagzeilen. Er pocht auf die Zusage der NATO-Staaten, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also fast das Dreifache der Ausgaben für Entwicklung, für Militär auszugeben. Die Bundesregierung geht auf das Spiel ein und hat ihren Willen bekundet, perspektivisch das NATO-Ziel mitzutragen. Das gilt auch für die SPD, die im Wahlkampf 2017 das NATO-Ziel noch als unrealistisch und vor allem unsozial gegeißelt hatte: Denn das Geld, das in die Bundeswehr gesteckt wird, fehlt für Bildung, Soziales, Infrastruktur und Entwicklungszusammenarbeit.
Der Koalitionsvertrag enthält dazu einen problematischen Kompromiss: Für jeden Euro, der zusätzlich fürs Militär ausgegeben wird, soll auch ein zusätzlicher Euro in die Entwicklungsfinanzierung fließen. Schon im Juli, also nur vier Monate nach Verabschiedung des Koalitionsvertrags, wackelt diese Zusage. Nach dem NATO-Gipfel im Juli 2018 versprach die Bundesregierung für das nächste Jahr zusätzliche 650 Millionen für die Bundeswehr. Entsprechend mehr Geld für Entwicklung: Fehlanzeige!
Im Kalten Krieg teilte der Eiserne Vorhang Europa, wie im Bild an der österreichisch-ungarischen Grenze. Ein Vierteljahrhundert später werden in Europa neue Zäune hochgezogen.
Festung Europa
Die Politik der Europäischen Union verändert sich unter dem Eindruck der sogenannten „Flüchtlingskrise“ sogar noch stärker: Letztes Jahr gaben die EU-Kommission und das Europaparlament grünes Licht dafür, Gelder aus dem Instrument für Stabilität und Frieden, die bislang ausschließlich für die Friedensförderung bestimmt waren, zur sogenannten „militärischen Ertüchtigung“ anderer Staaten einsetzen zu können.
Unter „Ertüchtigung“ ist die Ausrüstung und Ausbildung fremder Armeen durch europäische Soldatinnen und Soldaten zu verstehen. Beispiele sind Armee und Polizeikräfte in Mali oder die libysche Küstenwache. Ein Tabubruch, der leider kaum kritische Resonanz in der Öffentlichkeit erhielt.
Die Rechtsabteilung des Europäischen Rats riet von einer solchen Umwidmung von Geldern aus dem Instrument für Stabilität und Frieden für militärische Ertüchtigung ab. Der juristische Dienst des EU-Parlaments kam zum gleichen Urteil. „Dann aber“, so der Journalist Markus Becker von Spiegel-Online im Juli 2017, „geschah Erstaunliches: Im Januar 2017 legte der Parlamentsrechtsdienst eine zweite Expertise vor, die das genaue Gegenteil behauptete. Plötzlich war die Verordnung kompatibel mit EU-Recht. Insider vermuten, dass die Juristen unter politischen Druck geraten waren.“
Die Außenbeauftragte der Europäischen Union, Federica Mogherini, begründete die militärische Nutzung europäischer Entwicklungsgelder mit dem „Interesse der EU und ihrer Partner. Wir alle stehen vor den gleichen Aufgaben“, ließ sie in einer Pressemitteilung wissen: „Ich traf mich kürzlich mit Ministern der G5-Sahel-Länder (Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad, Anm. d. Verf.), die mir bestätigten, dass sie genau das von uns erwarten.“
Weiter heißt es in der Presseerklärung, diese Maßnahmen seien „Teil der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“, wonach „gerade in Entwicklungsländern Institutionen (...) zur Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität gestärkt werden“ sollten.
EU-Außenpolitik: Migrationsabwehr rückt in den Fokus
Eine juristische Aufbereitung dieser Entscheidung ist indes demnächst gar nicht mehr nötig: Die Europäische Union arbeitet schon an einem neuen „Mehrjährigen Finanzrahmen“ für die Jahre 2021 bis 2027 mit einem „Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Zusammenarbeit“. Ein Grund zur Entwarnung ist das allerdings nicht, im Gegenteil: Zwölf bislang unabhängige Finanzinstrumente der EU, darunter Haushaltslinien für Frieden, Menschenrechte und Entwicklung, sollen zu einem einzigen Finanzinstrument für Auswärtiges zusammengefasst werden. Begründet wird dies unter anderem mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU und den damit verbundenen Sparmaßnahmen.
Dabei sollen die Ausgaben für Auswärtiges ab 2021 steigen. Die Mittel für Konfliktprävention und Friedenskonsolidierung sollen hinge- gen (Stand Juli 2018) von rund 2,3Milliarden Euro auf etwa eine Milliarde Euro halbiert werden. Das zeigt zweierlei: Geld für auswärtige Politik ist durchaus da, und: Friedensförderung spielt dafür in den Augen der Europäischen Union nur noch eine untergeordnete Rolle.
Andere Zahlen zeigen, wo die Prioritäten liegen: Die europäische Grenzschutzagentur Frontex soll spürbar gestärkt werden. Auch die „Ertüchtigung“ fremder Armeen hat im neuen Finanzwerk wieder Platz gefunden. Und während zumindest die Auslieferung von Waffen und Munition an Drittstaaten im alten Finanzrahmen für Friedensförderung rechtlich nicht möglich war, kann ab 2021 Ausrüstung im Wert von stolzen 10,5 Milliarden Euro an die Armeen von Partnerländern ausgeliefert werden. Zynischer Name dieses neuen Programms ist „European Peace Facility“, also „europäische Friedenseinrichtung“. Es sollen vor allem Staaten entlang der Fluchtrouten wie der Sahelregion aus diesem Fonds aufgerüstet werden. Weitere 13 Milliarden Euro sind in den Jahren 2021 bis 2027 für die Subventionierung der europäischen Rüstungsindustrie eingeplant. Auf diese Weise sollen neue Absatzmärkte für die europäische Rüstungsindustrie erschlossen werden.
Die europäische Entwicklungs- und Friedenspolitik steht damit vor einem Paradigmenwechsel: Sie soll nun offenbar vollkommen der Sicherheitspolitik und der Migrationsabwehr untergeordnet werden.
Viele Bürgerinnen und Bürger lehnen die Abschottung Europas ab. Sie treten für eine offene Gesellschaft ein.
Ein Friedensprojekt gibt sich auf
Die Europäische Union droht damit, ihren Anspruch als Zivilmacht endgültig aufzugeben. Ein Staatenbund, der angetreten war, die blutigen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts zu überwinden und die Freundschaft zwischen den Völkern zu fördern, positioniert sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts als Förderer der Rüstungsindustrie und Grenzfeste zu ihren Nachbarregionen im Nahen Osten und Nordafrika.
Die Bundesregierung ist eher treibende Kraft dieser Entwicklungen als deren kritisches Korrektiv. Das zeigte die Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf der 18. Jahrestagung des Rats für nachhaltige Entwicklung im Juni. Zur Rolle der Europäischen Union bei der Umsetzung nachhaltiger Entwicklung sagte sie: „Damit bin ich bei einem großen Punkt, der, glaube ich,im Augenblick die größte Gefahr für die Zukunft der Europäischen Union ist, nämlich bei der Frage: Wie reagieren wir auf Migration und illegale Migration?“ Sie gab selbst die Antwort: „Wir brauchen eine europäische Grenzpolizei. Wir brauchen ein System der flexiblen Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Und wir brauchen (...) eine konsequente Bekämpfung von Fluchtursachen mithilfe eines neuen Pakts mit Afrika, eines Marshallplans mit Afrika. (...) Darin sehe ich eine der großen Herausforderungen für Europa. Und wir brauchen auch einen vernetzten Ansatz von Entwicklungs-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“
Die Weichen werden noch gestellt
Der mehrjährige Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021 bis 2027 ist noch nicht beschlossen. Noch kann die Zivilgesellschaft die skizzierte sicherheits- und verteidigungspolitische Ausrichtung der europäischen Außenpolitik mit ihrem Fokus auf Migrationsabwehr wie auf eine Stärkung militärischer Komponenten zulasten der Gelder für zivile Konfliktbearbeitung und Friedensförderung verhindern.
Politischer Protest ist aber bislang kaum zu vernehmen, während die Europäische Kommission aufs Tempo drückt: Geht es nach ihr, soll der Finanzrahmen noch vor der Europawahl im Mai 2019 beschlossen werden. Viele Expertinnen und Experten halten diesen Plan aufgrund des knappen Zeitrahmens für unrealistisch. Es gibt neben nüchtern-administrativen auch grundsätzliche demokratische Bedenken: Eine solche gravierende Neuausrichtung europäischer Politik müsste ausführlicher in den Parlamenten debattiert werden. Für zivilgesellschaftliche Organisationen der Friedens- und Entwicklungsarbeit bietet die anstehende Europawahl im nächsten Jahr eine Gelegenheit, um ihre Kritik vorzubringen.
Nicht zuletzt sind jetzt die Bürgerinnen und Bürger Europas gefragt: Sie können sich in den nächsten Monaten stärker für das Friedensprojekt EU einsetzen.
von Richard Klasen, Referent für nachhaltige Entwicklung und Friedenspolitik des forumZFD.