
Als es „Vorhang auf“ heißt, richten sich alle Blicke auf die Bühne im Klassenzimmer: Zwei Kinder sitzen auf Stühlen eng beieinander, während Mitschüler*innen sie von hinten anschieben. „Tatütata! Im Libanon hat es gebrannt!“, tönt es aus ihren Mündern. Am Ziel angekommen, beginnt Sekunden später ein Gerangel in einer Menschenmenge auf der Bühne: „Ihr seid schuld, dass es gebrannt hat!“, klagt eine Person an.
Die Szene ist Teil einer Theaterdarbietung im Workshop „Wie geht eigentlich Frieden im Libanon?“ an einem Gymnasium in Jülich. Er findet in Vorbereitung auf den Friedenslauf von Pro Peace statt, an dem die Schule im Herbst teilnimmt. Kinder der sechsten Klasse stellen in der Theaterszene einen fiktiven Streit zwischen syrischen Geflüchteten und Libanes*innen dar. Zuvor haben sie vom Krieg in Syrien und den daraus folgenden Fluchtbewegungen syrischer Menschen erfahren.
Der Libanon hat seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2011 eine verhältnismäßig hohe Zahl an Geflüchteten aufgenommen: Schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen aus Syrien haben im benachbarten Libanon Schutz gesucht. Für ein Land mit etwa vier Millionen Einwohnenden war und ist das bis heute eine gewaltige Herausforderung. Im Vergleich dazu hat Deutschland dem Statistischen Bundesamt zufolge gerade mal 600.000 syrischen Schutzsuchenden Asyl geboten – bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 80 Millionen Menschen.
Der Libanon durchlebt zudem gerade eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise. Infolgedessen ist das Land von hoher Arbeitslosigkeit und Armut gebeutelt. Das Land ist hoch verschuldet, die Inflationsrate dramatisch und seit der schweren Hafenexplosion in der Hauptstadt Beirut vor zwei Jahren hat sich die Lage noch weiter verschärft. Es herrscht Treibstoffmangel und akut droht dem Land eine Versorgungskrise.
Welche Herausforderungen diese Situation für die Menschen im Libanon mitbringt, weiß Hussein Dirani, der für Pro Peace Friedensworkshops gibt, aus eigener Erfahrung. Er kommt aus Beirut und hat im Libanon für Organisationen gearbeitet, die Hilfe für Geflüchtete leisten. Seine Arbeit habe ihn besonders nah an diese Menschen gebracht, sagt Dirani im Online-Interview. „Viele erzählten mir Geschichten vom Krieg. Das hat mich traurig und wütend zugleich gemacht“, sagt Dirani. „Manche hatten ihre Eltern verloren, ihre Schwestern oder ihr Zuhause. Es war nicht einfach, mit diesen Menschen zu reden, denn viele waren traumatisiert.“ Dirani hat sich jedes Mal gefreut, wenn die syrischen Kinder und Jugendlichen beim Spielen für einen kurzen Moment ihre Traurigkeit verloren.
Spannungen zwischen Einheimischen und syrischen Geflüchteten
Laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen leben neun von zehn syrischen Geflüchteten im Libanon unterhalb der Armutsgrenze. Zudem hat die Aufnahme von Geflüchteten unter Einheimischen und Neuankömmlingen Konflikte hervorgerufen. „Die Menschen kamen in einer Gesellschaft an, wo auch der Gastgeber arm ist“, sagt Hussein Dirani. „Denn meist werden die geflüchteten Menschen in ärmeren Gebieten des Libanons untergebracht.“ Unterstützende von Menschenrechtsorganisationen versorgen die Geflüchteten mit Essen und Kleidung. Doch genau das heizt Ärger unter den Einheimischen an: „Viele mussten zusehen, wie Fremde etwas geschenkt bekamen, obwohl sie selbst nicht viel haben. Das hat viele Einheimische wütend gemacht, es herrschte eine angespannte Stimmung“, so Dirani. Einige Hilfsorganisationen hätten später angefangen, sich darum zu bemühen, auch bedürftige Libanes*innen mit zu versorgen. Doch nach wie vor bleibt die Krise im Libanon ungelöst.
Hussein Dirani hat sich zum Ziel gesetzt, in seinen Workshops an Schulen in Deutschland über die konfliktreiche Situation in seinem Heimatland aufzuklären: Es sei wichtig, darüber zu reden, sagt er. Nur wenn mehr über die Lage im Libanon bekannt sei, könne Frieden entstehen. „Wir müssen mehr darüber reden, was Frieden bedeutet, und verstehen, dass Konflikt das Gegenteil von Frieden ist“, ist Dirani überzeugt.
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Genau das lernen die Sechstklässler*innen im Workshop am Jülicher Gymnasium: Was sind Konflikte und wie können sie diesen mit gewaltfreien Methoden begegnen? Gar nicht so einfach, dieses komplexe Thema für die junge Altersgruppe aufzubereiten. Die Trainerinnen sind heute Alice Pollmann und Dana Khamis, die ebenso wie Hussein Dirani von Pro Peace für solche Workshops geschult wurden. Die beiden sitzen mit den rund 25 Schüler*innen im Stuhlkreis im Klassenzimmer. „In einem Konflikt zwischen zwei Menschen gibt es immer zwei Standpunkte. Jeder hat eine Perspektive“, erklärt Pollmann. Das wirksamste Mittel, um einen Konflikt zu lösen, heiße Dialog. „Das ist ein Gespräch zwischen zwei Menschen. Man muss gewillt sein, der anderen Perspektive zuzuhören. Oft ist die andere Seite dann besser nachvollziehbar“, erläutert Pollmann.
Die Trainerinnen nutzen Methoden aus der Theaterarbeit, um den Kindern die Inhalte zu vermitteln: „Wie fühlt sich der Mensch, den ich euch nenne? Wie zum Beispiel ein Geflüchteter?“, fragt Pollmann in die Runde der Schüler*innen, die sich stehend in der Mitte des Stuhlkreises versammelt haben. Viele von ihnen nehmen eine Körperhaltung ein, die sie offenbar mit Geflüchteten in Verbindung bringen: Die Schultern sacken ein, der Kopf hängt nach unten, sie laufen langsamen Schrittes.
„Wie fühlt sich ein Libanese?“, fragt Pollmann als Nächstes. Die Schritte werden schnell, die Laufenden stoßen mit Schultern aneinander, manche von ihnen haben die Hände so geformt, als halten sie einen Kaffee in der Hand. Sie stellen libanesische Großstadtmenschen dar, die gestresst vom Alltag sind. „Und wie fühlt ihr euch, wenn ihr ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation seid?“, fragt Pollmann weiter. Daraufhin breiten mehrere Kinder die Arme aus, manche von ihnen stellen sich zu zweit gegenüber und sprechen miteinander, andere tanzen oder machen sogar ein Selfie zusammen. Die Teilnehmenden meistern die Übung, die das Empfinden von Empathie trainiert, mit Bravour: „Das war krass. Eine großartige schauspielerische Leistung“, sagt Trainerin Dana Khamis.
Mit Improvisationstheater Empathie und Verständnis trainieren
Als Nächstes beweisen sich die Schüler*innen beim Improvisationstheater. Aufgeteilt in Gruppen erhalten sie Anweisungen für eine kurze szenische Darstellung, in der ein Problem thematisiert wird. Sie sollen die Szene eigenständig in verschiedenen Abschnitten des Klassenzimmers einstudieren und können sie nach Belieben durch eigene Elemente wie Lösungsvorschläge erweitern. Nach zehn Minuten ruft Dana Khamis die Kinder mit einer Triangel zusammen: „So, jetzt könnt ihr auf der Bühne zeigen, wie ihr das Ganze wuppt.“ Die erste Gruppe, die ihre Szene vor versammeltem Publikum vorführen darf, positioniert sich nach einem Signal von Khamis zügig auf der „Bühne“ – eine rote Schnur, die Schauspielende und auf dem Boden sitzende Zuschauende voneinander trennt.
In ihrer Szene stellen sie syrische Geflüchtete und Libanes*innen dar, die sich gegenseitig die Schuld für einen Brand zuweisen. Plötzlich tritt eine vermittelnde Person hervor: „Warum denkt ihr so voneinander? Vielleicht kommt das Feuer ja von der Sonne. Streitet nicht, sondern redet miteinander.“ Es stellt sich heraus, dass es zu viel Müll im Flüchtlingslager gegeben hat und es deshalb angefangen hat zu brennen. Geflüchtete und Libanes* innen fallen sich in die Arme – und das Publikum applaudiert.
Sich gegenseitig zuzuhören, Respekt und Verständnis füreinander zu haben, genau das bedeutet für Hussein Dirani Frieden. „Diese Fähigkeiten kann man trainieren“, sagt Dirani. Das gelte ebenso unter verschiedenen Nationalitäten. Dirani musste vor sieben Jahren wegen seines politischen Engagements selbst als Geflüchteter nach Deutschland kommen. Hier hat er erlebt, dass die Bedingungen für Frieden sich von Land zu Land stark unterscheiden können.
Für Frieden braucht es Dialog, Respekt und Toleranz
„Im Libanon geht es um grundlegende Bedürfnisse des Lebens, wie zur Schule zu gehen oder 24 Stunden lang Strom oder Heizung zu haben“, sagt der 37-Jährige. „Diese Probleme gibt es in Deutschland nicht.“ Frieden in Deutschland zu haben, bedeutet für Dirani dagegen, nicht wegen seines Aussehens oder seiner Herkunft diskriminiert zu werden. Besonders schwierig war es anfangs für ihn, im neuen Land anzukommen. Durch den Status als Geflüchteter ist er durch einen Rollenwechsel gegangen: „An einem Tag war ich derjenige, der Hilfe bietet. Am nächsten war ich auf einmal derjenige, der Hilfe braucht.“ Das sei eine große Umstellung für ihn gewesen. Anderen Menschen zu helfen, sei ein wichtiger Teil seines Lebens. Doch plötzlich in der Rolle eines Hilfesuchenden zu sein, war für ihn nur schwierig zu akzeptieren. Hinzu kam die Rolle als Fremder in einer neuen Gesellschaft: Zum ersten Mal erlebte Dirani Diskriminierung aufgrund seiner Herkunft. „Frieden bedeutet auch, in Deutschland unterwegs sein zu können und nicht erklären zu müssen, wie ich aussehe“, sagt Dirani.
Zum Glück habe er Freund*innen gefunden, die ihn dabei unterstützten, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen. „Gute Freunde akzeptieren deine Persönlichkeit so, wie sie ist, und versuchen nicht, dich zu ändern.“ Zu den wichtigsten Grundlagen für Frieden gehört aus der Sicht von Dirani, dass sich Menschen gegenseitig akzeptieren und tolerieren.
Doch der Weg zu einem friedvollen Miteinander kann steinig sein, das zeigen die Trainerinnen am Jülicher Gymnasium in einer weiteren Theaterübung: Dabei sollen die Kinder ein Gefühl, das ihnen bekannt ist, auf einer Skala von null bis zehn bewerten. „Wer hat schon einmal Vorurteile gehabt?“, fragt Alice Pollmann in die Runde. Die Teilnehmenden wandern im Raum umher und verteilen sich zwischen den Nummern null, fünf und zehn.
Durch das Improvisationstheater lernen die Kinder, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Erstaunlicherweise steht Pollmann selbst auf Nummer zehn. „Warum denn das?“, fragt Dana Khamis. „Na ja, alle haben eben Vorurteile. Ich habe einmal eine Frau mit Kopftuch gesehen und dachte, sie sei Muslima.“ Später fand sie jedoch heraus, dass diese Frau Krebs hatte. Im Fazit des Workshops betont Pollmann deshalb: „Frieden fängt bei uns selbst an. Wenn wir die Welt besser machen wollen, müssen wir mehr zuhören und aufhören, andere zu beschuldigen.“
Gegen Ende des Workshops strahlen die Gesichter der Schulkinder. „Das Theaterspielen hat besonders Spaß gemacht“, sagt Alina. Es sei toll gewesen, auf andere Art als im normalen Unterricht zu lernen, bestätigen ihre Mitschüler*innen. Mazdak habe es Freude gemacht, zu erfahren, was außerhalb von Deutschland passiert. Normalerweise sei das nicht Teil des Unterrichts, sagt der Elfjährige. „Ich würde zum Beispiel gerne mehr erfahren, was in Afrika los ist. Auf dem Schulhof höre ich immer, dass es dort keine Wasserpistolen gibt. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt.“
Eigene Vorurteile hinterfragen
Eine andere Schülerin hat heute zum ersten Mal von dem Krieg in Syrien und den vielen geflüchteten Menschen erfahren. Das habe sie traurig gemacht. Normalerweise werde im Unterricht nicht über Krieg gesprochen, sagt sie. „Ich habe heute gelernt, wie wichtig es ist, verständnisvoll mit anderen Menschen umzugehen.“
Wenn Schüler*innen mit solchen Erkenntnissen aus seinen Workshops herausgehen, schöpft Hussein Dirani Kraft. Oft kämen Jugendliche danach auf ihn zu und erzählten ihm aufgeregt ihre Geschichten. Er hätte einmal zwei Schüler gehabt, die serbische und bosnische Wurzeln hatten. „Obwohl unsere Länder Konflikte haben, sind wir beste Freunde!“, sagten sie zu ihm. In solchen Momenten sieht er seine Mission zumindest teilweise erfüllt.
Doch Dirani betont: „Ich freue mich schon darauf, wenn ich irgendwann keine Workshops mehr geben muss. Nämlich dann, wenn es keine Workshops für Frieden mehr brauchen wird.“
Ein Friedenstag an Ihrer Schule
Ein Tag an dem alle gewinnen: Der Friedenstag ist ein kostenloses Angebot von Pro Peace für Schulen. Er fördert das friedliche Miteinander in unserer Gesellschaft und im Schulalltag. Die Aktion kombiniert Sport, Workshops und gesellschaftliches Engagement für Friedensprojekte in Konfliktregionen.
Neugierig? Informieren Sie sich jetzt über einen Friedenstag an Ihrer Schule. Wir beraten Sie gerne und unterstützen Sie bei der Planung und Durchführung.
Der Workshop „Wie geht eigentlich Frieden im Libanon?“ war Teil eines Projekts der friedens- und entwicklungspolitischen Bildungsarbeit an Schulen, das gefördert wurde durch ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, durch die Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen sowie durch Brot für die Welt. Wir bedanken uns für die Unterstützung!