„Dann fahren wir halt selber hin“

Seenotretterin Aline Watermann im forumZFD-Interview

Aline Watermann hat seit März an Missionen verschiedener Seenotrettungs-Organisationen auf dem Mittelmeer teilgenommen. Im vergangenen Jahr hat sie die berufsbegleitende Weiterbildung zur Friedens- und Konfliktberaterin an der Akademie für Konflikttransformation des forumZFD abgeschlossen. Sie war im Juni 2018 an Bord der Lifeline, als das Schiff mit 235 geretteten Menschen vor Malta kreuzen musste und keinen Hafen anlaufen durfte. Im Gespräch über ihre Erfahrungen beeindruckte uns vor allem ihr Glaube an die Tatkraft der Zivilgesellschaft.
Lifeline Schiff auf See
© Hermine Poschman

Wie sehr beschäftigen Sie heute noch die Tage auf der Lifeline?

Aline Watermann: Ich bin schon fast zwei Wochen zurück, und die Erlebnisse beschäftigen mich natürlich noch sehr – vor allem, dass unser Kapitän nun allein den Kopf hinhält und sich in Malta vor Gericht verantworten soll, während der Rest der Crew in Freiheit ist. Ich nutze diese Freiheit gerade sehr intensiv, um am Thema dranzubleiben und Öffentlichkeit dafür zu schaffen.

Was haben Sie seit der Rückkehr gemacht?

Aline Watermann: Es gibt erstaunlich viele Interviewanfragen, sowohl von deutscher als auch von französischer Seite. Das kann einen ganz schön auf Trab halten. Es entsteht gerade eine unfassbar aktive Zivilgesellschaft um das Bündnis Seebrücke. Es gibt viele Demos, Informationsveranstaltungen und kreative Aktionen. Eine Münsteraner Designerin entwirft gerade Armbändchen aus recycelter Bademode als Solidaritätszeichen in Orange, der Farbe der Schwimmwesten.

Erleben Sie gerade sehr viel Solidarität?

Aline Watermann: Unfassbar viel. Für mich ist es im Moment das Wichtigste, das zu unterstützen. Es gibt gerade so viele Menschen, die nicht damit einverstanden sind, dass Menschen ertrinken, und die sich solidarisch zeigen wollen.

Erleben Sie auch ganz andere, negative Reaktionen?

Aline Watermann: Natürlich bekomme ich auch negative Stimmung mit, wenn ich mir Medienbeiträge anschaue oder wenn ich die Kommentarspalten lesen würde. Aber wenn man sich darauf zu stark konzentriert, verliert man aus dem Blick, wie viele Menschen und auch viele Politikerinnen und Politiker sich gerade für die Seenotrettung starkmachen. Mehrere Städte wie zum Beispiel Bonn haben sich mit der Seenotrettung solidarisch erklärt und sind bereit, in Zukunft mehr Geflüchtete aufzunehmen. In den Städten und Gemeinden erfahren wir parteiübergreifend positive Resonanz.

Ende Juni haben mehrere Seenotrettungsorganisationen, darunter auch Ihre Organisation, den EU-Regierungen eine Kriminalisierungskampagne vorgeworfen. Dem Kapitän der Lifeline wird beispielsweise vorgeworfen, das Schiff sei nicht ordentlich registriert. Das riecht geradezu nach einem vorgeschobenen Grund, um das Boot im Hafen zu halten.

Aline Watermann: Ganz klar. Es findet gerade eine Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung statt. Dabei handeln wir konform mit internationalem Recht. Wir werden nicht etwa wegen Menschenhandel oder Ähnlichem angeklagt, sondern wegen einer Bagatelle, einem Registrierungsproblem. Mit ähnlichen Argumenten werden auch andere Organisationen auf Malta daran gehindert auszulaufen und das zivilgesellschaftliche Aufklärungsflugzeug Moonbird von der Organisation Seawatch am Boden gehalten. Das kostet täglich Menschenleben. Das ist ein Skandal!

Hat Sie dieses Vorgehen der europäischen Regierungen sehr überrascht?

Aline Watermann: Die letzte Lifeline-Mission fand kurz nach dem Regierungswechsel in Italien statt. Wir wussten, dass die Situation angespannt ist. Aber gleichzeitig ist natürlich extrem erschütternd und schockierend, dass zunächst keine europäische Regierung ihrer Schutzverantwortung nachgekommen ist, als wir mit 235 Menschen an Bord eine Woche vor Malta kreuzen mussten.
Als zivile Seenotrettungsorganisationen kompensieren wir politisches Versagen. Das ist sicher keine nachhaltige Lösung. Aber es ist eine große Leistung, was hier aus zivilgesellschaftlicher Initiative aufgebaut wurde. Es braucht jetzt politische Lösungen statt Kriminalisierung.

Im Juni 2018 kreuzte die Lifeline mit 235 Menschen an Bord eine Woche lang vor Malta, weil die Häfen ihr die Einfahrt verweigerten.

Was wären denn sinnvolle politische Lösungen?

Aline Watermann: Erst mal brauchen wir die akute Hilfeleistung für Menschen, die im Mittelmeer zu ertrinken drohen. Wir brauchen wieder eine staatliche Seenotrettung, wie vor 2015 mit der Mission Mare Nostrum, nur mit besserer Ausstattung und humanitärem Auftrag. Natürlich brauchen wir auch Aufbauprogramme in Herkunftsländern, vor allem für demokratische Strukturen und Zivile Konfliktbearbeitung. Wir brauchen eine faire Visapolitik und mehr legale, sichere Einreisewege, damit insbesondere Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, überhaupt die Möglichkeit haben, zu ihrem Recht zu kommen. Das kann nicht in irgendwelche Zentren in Nordafrika ausgelagert werden. Und schließlich muss das Dublin-Verfahren so geändert werden, dass die Mittelmeeranrainerstaaten entlastet werden. Kurz gefasst: wir brauchen Brücken, keine Grenzen – das fordert das Bündnis Seebrücke.
Im Fokus der Politik müssen auf jeden Fall die Menschenrechte stehen und nicht Abwehr. Im Moment bricht
Europa geltende Rechtsnormen, missachtet das internationale Seerecht und die Genfer Flüchtlingskonvention. Ich meine, wir dürfen nicht so leichtfertig mit den Errungenschaften internationalen Rechts umgehen.

Was hat Sie persönlich dazu bewegt, an einer Seenotrettungsmission teilzunehmen?

Aline Watermann: Ich versuche, es auf meine Weise zu erklären. Eigentlich finde ich es pervers und absurd, dass ich so einfach entscheiden kann: „Okay, ich habe Bock, mich zu engagieren.“ Dann kaufe ich mir ein Ticket nach Malta, kann da auf ein großes Schiff gehen und das machen. Ich habe Privilegien allein aufgrund meines Passes, aufgrund der Tatsache, dass ich auf diesem Kontinent Europa geboren bin. Doch meine Privilegien sind eingebettet in ein fieses neokoloniales System. Es ist nichts, was ich verdient habe oder worauf ich stolz sein kann. Es ist mehr wie eine gewisse Macht, die mir gegeben wird, ohne dass ich dafür etwas tun musste. Ich als weiße Frau bin auf einem relativ komfortablen Schiff im Vergleich zu dem kleinen Schlauchboot, auf dem sich Hunderte von Menschen quetschen. Und ich habe die Möglichkeit, auf sie zuzufahren und zu sagen: „Hey, hier hast du eine Schwimmweste.“ Das ist krass. Das ist total absurd und zeigt, wie perfide und absurd das globale System ist.

Wie sind Sie mit dieser Absurdität, mit diesem Machtverhältnis umgegangen?

Aline Watermann: Man könnte meine Entscheidung Privilegien-Teilen nennen. Ich erinnere mich an eine konkrete Situation, bei der ich mich selbst ertappt habe. In einer Nacht sind Parlamentarier bei uns an Bord gekommen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. An Bord waren alle ziemlich aufgeregt. Nach dem Abschied der Parlamentarier habe ich mich umgedreht und zu einem unserer Gäste gesagt: „Ja, wir sitzen hier alle im selben Boot.“ Seine Antwort war: „Sind wir nicht. Es ist anders, weil du dich dazu entschieden hast, uns zu helfen. Wir hatten keine Wahl.“ Das hat mich wahnsinnig berührt, und mir war klar, er hat recht.

Wie läuft so eine Mission auf der Lifeline ab?

Aline Watermann: Der Verlauf hängt vom Wetter und von der politischen Lage ab. Der Alltag ist in Wachschichten organisiert. An Bord eines Schiffes ist immer relativ viel zu tun, und es ist wichtig, aber nicht immer einfach, sich Pausen zu nehmen und zu schlafen. Es kann sein, dass wir selber Boote in Seenot sichten oder eine Notmeldung reinkommt. Bislang kam sie von der Seenotrettungsleitstelle Rom, die für die sogenannte „Search and Rescue“-Zone vor der libyschen Küste zuständig ist. Sie geben uns eine Koordinate und eine Fallnummer, dann machen wir uns auf den Weg. Wenn die Menschen gerettet sind, werden sie entweder von einem größeren Schiff abgeborgen, oder Italien weist uns einen sicheren Hafen zu. Diese Zusammenarbeit hat die letzten Jahre oftmals gut geklappt.

Doch das ändert sich gerade. Nach dem Willen der EU soll Libyen die Zone bald selbstständig verwalten. Die libysche Küstenwache ist inzwischen dank der europäischen Militäroperation EUNAVFOR Med sehr gut
ausgerüstet: Ihre Schiffe sind oft schneller als unsere. Die gute Ausrüstung bedeutet leider nicht, dass sie auch professionelle Rettungseinsätze nach internationalem Recht durchführen. Ganz im Gegenteil. Auch bei unserer letzten Mission kam es zu einer recht prekären Begegnung mit der libyschen Küstenwache. Die geretteten Menschen sagten uns immer wieder: „Wir wollen lieber sterben, als zurück nach Libyen zu gehen.“

Was genau ist passiert?

Aline Watermann: Es war ein Einsatz am 21. Juni. In den frühen Morgenstunden wurden Radarsignale geortet. Als sich die Vermutung verhärtete, dass es sich um Boote in Seenot handeln könnte, wurde der Rest der Crew geweckt. Wir sind mit unserem Beiboot zur Suche ausgefahren und haben die Menschen mit Schwimmwesten versorgt. Gleichzeitig hat unsere Brücke die Seenotleitstelle in Rom informiert. In dem Moment wussten wir, dass noch ein zweites und ein drittes Boot in Seenot geraten sind. Darum haben wir die Menschen so schnell wie möglich an Bord der Lifeline gebracht, sind dann zum nächsten Boot und haben auch diese Menschen in Sicherheit gebracht. Während wir auf der Suche nach dem dritten Boot waren, traf die libysche Küstenwache ein, die ebenfalls von Italien informiert worden war.
Wir mussten mit unserem Beiboot umkehren, damit wir nicht in Gefahr geraten. Nach langer Diskussion mit
unserem Kapitän kamen zwei Mitglieder der libyschen Küstenwache zu uns an Bord. Unsere Bedingung war, dass sie auf keinen Fall Waffen tragen dürfen. Sie wollten die Menschen wieder zurück nach Libyen bringen. Wir haben das verweigert und klargestellt, dass wir damit gegen internationales Recht verstoßen würden. Nach internationalem Seerecht müssen aus Seenot gerettete Menschen in einen sicheren Hafen gebracht werden. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention besagt, dass kein Mensch dorthin zurückgebracht werden darf, wo seinem Leben Gefahr droht. Nach angespannter Diskussion ist die libysche Küstenwache schließlich abgezogen und hat uns die Anweisung gegeben, nordwärts zu fahren.

Die referenzierte Medienquelle fehlt und muss neu eingebettet werden.

Mit 235 Menschen und 18 Crew-Mitgliedern an Bord sind wir in Richtung Norden gefahren und haben fast eine
Woche in keinen Hafen einlaufen dürfen. Die Menschen an Bord, auch wir Crew-Mitglieder, sind dabei wirklich an unsere Belastungsgrenzen gekommen. Die Krankenstation war im Dauereinsatz. Die Menschen waren durch die extremen Belastungen aus Libyen bereits geschwächt, und die Situation an Bord war eine weitere Strapaze. Ab der zweiten Hälfte der Woche kamen noch Wind und Wellen dazu. Wir hatten also ungefähr 200 seekranke, geschwächte Menschen an Bord, die sich übergaben und schnell dehydrieren konnten. Alle standen unter enormem psychischem Druck. Keiner konnte genau sagen, wie es weitergeht. In der Situation war Kommunikation total wichtig. Wir haben ein Infobrett gebastelt, damit die Leute mitverfolgen konnten: Wo sind wir genau? Was ist der Stand der Dinge? Woran arbeiten wir?

War die Crew auf diese Extremsituation vorbereitet?

Aline Watermann: Wir sind dafür ausgestattet und ausgebildet, Menschen für zwei bis drei Tage gut zu versorgen. Aber es ist etwas anderes, wenn man fast eine Woche in so einer Situation gefangen ist. Wir haben das als Crew den Umständen entsprechend ziemlich gut hinbekommen. Natürlich gibt es Konflikte, wenn so viele Menschen eine Woche eng an eng schlafen müssen. Natürlich liegen die Nerven blank. Bei allen. Man schläft wenig. Man ist physisch geschwächt. Da war unfassbar viel Geduld, Kommunikation und Zusammenarbeit notwendig.

Am Ende habt ihr noch eine politische Lösung erreicht ...

Aline Watermann: Ja, man kann es so nennen. Einige europäische Länder haben sich bereit erklärt, die Menschen aufzunehmen. Daraufhin konnten wir nach fast einer Woche endlich in den Hafen von Malta einlaufen. Der enorme öffentliche Druck hat dabei sicherlich geholfen.

Was bleibt?

Aline Watermann: Mich berührt und beeindruckt bis heute, dass wir als europäische Zivilgesellschaft sagen: „Nein, stopp. Wir sind nicht bereit, das Sterben so hinzunehmen. Dann fahren wir halt selber hin.“
Alles ohne öffentliche Fördermittel. Das ist einfach eine Wahnsinnsleistung.

Das Gespräch führte Christoph Bongard,
Leiter der Abteilung Kommunikation im forumZFD