
Annelie Buntenbach, geboren 1955 in Solingen, trat nach ihrem Studium der Geschichte und Philosophie in Bielefeld und mehrjähriger Arbeit als Setzerin 1978 in die Gewerkschaft ein. Heute ist sie Mitglied des vierköpfigen Geschäftsführenden Bundesvorstands im Deutschen Gewerkschaftsbund und vertritt mehr als sechs Millionen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. Ihre Themen sind Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Seniorenpolitik, Recht und Europa-, Migrations- und Antirassismuspolitik.
Warum unterstützen Sie als Erstunterzeichnende den Aufruf „Für eine Politik der Vernunft“?
Annelie Buntenbach: Ich bin sehr froh über die Initiative zu diesem Aufruf, denn mir macht große Sorgen, wie in der politischen Diskussion immer mehr die Illusion vermittelt wird, mit Krieg könne man Probleme lösen oder Konflikte gewinnen. Diese Illusion führt nur dazu, dass Militärhaushalte weiter aufgebläht werden und militärisches Eingreifen immer früher als Option in die Debatte eingebracht wird, die vermeintlich schnellen Erfolg verspricht. Stattdessen sollte die Aufmerksamkeit viel stärker darauf gerichtet werden, wie eine Politik der Vernunft gestärkt und Frieden und Gerechtigkeit gefördert werden können.
Neben der neuen Aufrüstungsdebatte greift der Aufruf auch die Frage auf, wie wir mit dem Thema Terrorgefahr und Radikalisierung umgehen sollen.
Annelie Buntenbach: Die Debatte um innere Sicherheit wird oft sehr verkürzt geführt, als Frage vom starken Staat und verschärfter Gesetzgebung. Der Überbietungswettbewerb an repressiven Maßnahmen und Abwehr stärkt nur diejenigen, die auf das Schüren von Angst vor Geflüchteten, vor Zuwanderung insgesamt und vor gesellschaftlicher Veränderung setzen. Es ist aber auch in der Sache falsch, weil wir mit mehr Repression kein einziges Problem an den Wurzeln packen, sondern vor allem eine Menge neuer Probleme schaffen.
Wie sollte die Debatte Ihrer Ansicht nach geführt werden?
Annelie Buntenbach: Klar, wir brauchen eine Diskussion über Sicherheit, die hat eine ganze Menge Facetten. Da geht es zum Beispiel auch um die Überlastung des Personals im Öffentlichen Dienst – in den sozialen Diensten, bei Behörden, bei der Polizei, deren Präsenz beispielsweise in Brennpunkten so manchen Konflikt von vornherein entschärfen könnte. Hier muss wieder investiert werden. Und wir müssen darüber sprechen, was Sicherheit für die Bevölkerung ausmacht. Dabei halte ich es für ganz entscheidend, soziale Sicherheit einzubeziehen. Ob es ein sicheres Netz gibt, wenn man krank wird, arbeitslos oder im Alter, oder ob man dann befürchten muss, abzustürzen, macht für die Betroffenen und für das Klima in der Gesellschaft einen entscheidenden Unterschied aus.Hier müssen wir über Sicherheit in einem viel breiteren Zusammenhang reden.
Was wären die vordringlichsten Aufgaben für die nächste Bundesregierung, damit sozialer Zusammenhalt und der Präventionsgedanke gestärkt werden?
Annelie Buntenbach: Zum einen brauchen wir dringend eine Stärkung und Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme, vor allem bei der Rente. Die Politik ist gefordert, damit die Menschen keine Angst vor den großen Lebensrisiken wie Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit haben. Und: Wir brauchen endlich wieder mehr Investitionen in soziale Infrastruktur, in Bildung, aber auch in die Bekämpfung von Armut. Im Moment ist die Gesellschaft tief gespalten, und große Teile der Politik sehen zu, wie sie immer weiter auseinanderdriftet. Um den Ernst der Lage zu erkennen, genügt ein Blick in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
Haben Sie den Eindruck, dass diese Einsichten von einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler geteilt werden?
Annelie Buntenbach: Nach meiner Erfahrung wünschen sich viele Menschen, dass Fragen der sozialen Gerechtigkeit zur Bundestagswahl von den Parteien aufgenommen und diskutiert werden. Natürlich sind wir auch als Gewerkschaften gefragt, gerade die Arbeits- und Lebenswirklichkeit im politischen Raum immer wieder zum Thema zu machen.
Lange galt „Wohlstand durch Wachstum“ als Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Dieses Paradigma scheint endgültig überholt, wenn wir soziale Gerechtigkeit global denken und zugleich die Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten berücksichtigen. Wird in den Gewerkschaften nationale und globale, soziale und ökologische Gerechtigkeit schon zusammengedacht?
Annelie Buntenbach: Zunächst mal setzen wir als Gewerkschaften auf qualitatives Wachstum. Das bedeutet Investition und Entwicklung in nachhaltigen Bereichen, wie zum Beispiel regenerative Energien und soziale Infrastruktur. Wir setzen uns für einen fairen Welthandel ein und eben keine Geheimdiplomatie, wie Investitionsschutz hinter verschlossenen Türen und Sonderabreden in Handelsabkommen.
Sind diese Themen auch an der Basis präsent?
Annelie Buntenbach: Es gibt viele engagierte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter oder auch Betriebsräte, die auch genau diese Themen und Zusammenhänge vorantreiben. Aber es ist kein Selbstläufer, dass wir über den eigenen nationalen Tellerrand hinausdenken, das muss immer wieder aktiv in die Diskussion hineingebracht werden.
Weitaus umstrittener ist innerhalb der Gewerkschaften sicherlich das Thema Rüstungsexporte. Stimmt dieser Eindruck?
Annelie Buntenbach: Nein. Wir stehen alle dafür ein, dass Exportmöglichkeiten nicht über Menschenrechte gestellt werden dürfen. Nötig ist eine restriktive Regelung von Waffenexporten. Rüstungsexporte in Krisenländer sind definitiv zu unterlassen.
Würden Sie sich noch eine darüber hinausgehende Position wünschen, wie sie auch von einer ganzen Reihe von Organisationen und Kirchen seit mehreren Jahren gefordert wird?
Annelie Buntenbach: In den Gewerkschaften wird – wie in vielen anderen Organisationen auch – immer wieder lebhaft, engagiert und auch kontrovers darüber diskutiert, welche Rüstungsexporte und ob Rüstungsexporte überhaupt legitim sind. Und diese kontinuierliche kritische Diskussion über dieses wichtige Thema steht uns, finde ich, gut an.
Wenn sich die Umfragen bestätigen, wird am 24. September mit der AfD eine rechtspopulistische Partei, die auch unter der vermeintlich klassischen Klientel von Gewerkschaften und linken Parteien Anhänger findet, in den Bundestag einziehen. Wie gehen Sie damit um?
Annelie Buntenbach: Die AfD ist aus unserer Sicht keineswegs eine normale Partei. Sie ist für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter nicht wählbar, weil sie die Gesellschaft entlang ethnischer Linien versucht zu spalten. Außerdem vertritt sie keine Arbeitnehmerinteressen, ganz im Gegenteil. Wir treten der AfD überall da klar entgegen, wo sie versucht, die Gesellschaft zu spalten und Geflüchtete und Zuwanderer zu Sündenböcken für soziale Probleme zu machen. Antworten auf soziale Probleme liegen mit Sicherheit nicht in der Bekämpfung der Flüchtlinge, sondern in mehr sozialer Gerechtigkeit für alle in der Gesellschaft. Die AfD ist nicht, wie sie behauptet, sozial, sondern eine neoliberale Partei. Das zeigt sich schon daran, was sie bei der Steuer vorhat: keine Vermögenssteuer und Abschaffung der Erbschaftssteuer.
Die Gewerkschaften und auch Sie persönlich engagieren sich schon lange gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Welche besonders gelungenen Projekte möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern ans Herz legen, wenn sie auch aktiv werden wollen?
Annelie Buntenbach: Es gibt eine Reihe von ausgesprochen guten Initiativen in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Da fallen mir zum Beispiel die Stammtischkämpfer und -kämpferinnen mit ihren Argumentationstrainings und Zusammenschlüssen vor Ort ein. Andere recherchieren gründlich, zum Beispiel in den Internetforen der lokalen AfD und machen rassistische und antisemitische Aussagen öffentlich zum Thema. Größere öffentliche Aktionen wird es immer wieder geben müssen, die brauchen breite Unterstützung, wie zum Beispiel die Demonstration gegen das Treffen europäischer Rechtspopulisten in Koblenz, deren Motto mir sehr gut gefallen hat: „Wer in einer Demokratie schläft, der kann in einer Diktatur aufwachen.“ Ich finde es wichtig, dass man sich mit Leuten zusammenschließt, sei es in der Gewerkschaft, im Betrieb oder auch in breiteren Bündnissen, um zu zeigen, dass wir denjenigen, die auf Spaltung, Sündenböcke und Menschenverachtung setzen, nicht den öffentlichen Raum überlassen.
Lassen Sie uns zum Abschluss noch einmal über die anstehende Bundestagswahl sprechen. Was muss passieren, damit der Aufruf „Für eine Politik der Vernunft“ Gehör findet?
Annelie Buntenbach: Ich bin überzeugt davon, dass in diesem Bundestagswahlkampf die Forderung aus den USA, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Militär auszugeben, Thema sein wird. Dem muss eine klare Absage erteilt werden - hier erwarte ich, dass alle Parteien sich eindeutig festlegen. Wenn sie das nicht von sich aus tun, sollten wir das einfordern. Wir müssen zeigen, wie groß und breit die Ablehnung in der Gesellschaft ist – es wäre ein fataler Fehler, weil damit die Rüstungsspirale weiter in Gang gesetzt würde. Dabei wird das Geld dringend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gebraucht. Wenn wir dieses konkrete Thema zum Ausgangspunkt machen, sind die Chancen gut, auch die dahinterliegenden grundsätzlichen Ideen zum Thema zu machen, wie man die Aufrüstungsspirale stoppen kann und Frieden und Gerechtigkeit fördert.
Eine gute Gelegenheit an die Öffentlichkeit zu gehen, ist der Anti-Kriegstag am 1. September. Wird der DGB auch in diesem Jahr dazu aufrufen?
Annelie Buntenbach: Auf jeden Fall! Der DGB ruft hier jedes Jahr auf, und vor Ort gibt es eine Menge Veranstaltungen, die Gelegenheit zu Diskussionen und Demonstration gegen Krieg und Kriegsgefahren in der Welt bieten, aber auch zur Erinnerungsarbeit, damit es nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus gibt. Ich hoffe, dass sich auch dieses Jahr viele daran beteiligen werden.
Die Einladung geben wir gerne an die Leserinnen und Leser weiter. Herzlichen Dank für das Gespräch.