Frieden wird uns nicht geschenkt

Pro Peace-Interview mit dem Friedensforscher Christoph Weller

Was verstehen wir eigentlich genau unter „ Ziviler Konfliktbearbeitung“, von der wir von Pro Peace so häufig sprechen? Wo kann und wo muss sie zum Einsatz kommen, damit sie wirken und überzeugen kann? Und was bedeutet der Krieg gegen die Ukraine für die Zukunftsfähigkeit der Zivilen Konfliktbearbeitung? Darüber haben wir mit dem Augsburger Friedens- und Konfliktforscher Christoph Weller gesprochen.
Christoph Weller
© privat

Wenn wir von Pro Peace gefragt sind, einen passenden Fachbegriff für unsere Friedensarbeit zu benennen, dann ist das die „Zivile Konfliktbearbeitung“. Woher kommt dieser Begriff, in welchem Kontext ist er entstanden?

Kontext für die Erfindung des Begriffs war das antimilitaristische Denken in den 1990er Jahren. Ich selbst habe den Begriff zum ersten Mal auf der Jahreskonferenz der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) im Frühjahr 1993 gehört, von dem politisch sehr engagierten Frankfurter Friedensforscher Andreas Buro. Er und viele andere dachten damals intensiv darüber nach, wie die Eskalation von internationalen Konflikten verhindert werden kann und was zu einem besseren, gewaltfreien Konfliktaustrag beitragen könnte, eben ohne auf Militär zurückzugreifen. Man suchte nach Handlungsmöglichkeiten einer nichtmilitärischen, gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Und dafür hat sich in den 1990er Jahren der Begriff „Zivile Konfliktbearbeitung“ etabliert.

Was war das Besondere an dieser Zeit?

Die internationale Politik war nicht mehr geprägt von militärischer Abschreckung, sondern nach Ende des Ost-West-Konflikts wurden internationale Friedenseinsätze der Staatengemeinschaft möglich und der UN-Sicherheitsrat wurde handlungsfähig. Aber dabei dominierten militärische Vorgehensweisen, denen mit „Ziviler Konfliktbearbeitung“ etwas entgegengesetzt wurde. Später hat sich die zweite Dimension des Wortes „zivil“ stärker durchgesetzt im Sinne von „nicht-staatlich“. Bereits 1994 tauchte der Begriff dann an prominenter Stelle in einer Denkschrift der EKD auf. Es folgten mehr und mehr Publikationen, die Gründung von Initiativen wie Pro Peace oder 1998 der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung, die den Begriff im Namen trägt.

Und wie würden Sie den Begriff heute definieren?

Da zitiere ich mal – (lacht) so machen wir Wissenschaftler*innen das ja gerne – meinen Text aus dem Friedensgutachten 2004: „In einem breiten Verständnis bedeutet ‚Zivile Konfliktbearbeitung‘, Regeln und Institutionen zu besitzen oder zu etablieren, die bei aktuellen und zukünftigen Konflikten Gewaltanwendung verhindern.“ Das würde ich heute immer noch so schreiben, denn die zentralen Elemente sind enthalten: Institutionen in einem ganz breiten Sinn und die Gewaltvermeidung.

Zivile Konfliktbearbeitung in der Praxis: Pro Peace-Projektmitarbeitende analysieren und bearbeiten Konflikte zwischen Einheimischen und syrischen Geflüchteten im Libanon.

Also geht es darum, den gewaltfreien Austrag von Konflikten zu etablieren?

Ja, und genau deshalb würde ich dem Militär keine Rolle bei der Zivilen Konfliktbearbeitung zumuten wollen.

Ist mein Eindruck richtig, dass Zivile Konfliktbearbeitung weniger aus einem wissenschaftlichen, theoretischen Diskurs entstanden ist, sondern von Anfang an auch ein politischer Begriff war?

Unbedingt. Es war stärker ein politischer Begriff als ein wissenschaftlicher. Mit der Etablierung des Begriffs im politischen Diskurs ist es wirklich gelungen, vor allem mit der ersten rot-grünen Bundesregierung ab 1998 – den Gedanken der Zivilen Konfliktbearbeitung in den Institutionen zu verankern, zum Beispiel mit dem Zivilen Friedensdienst und später dem Aktionsplan Zivile Krisenprävention der Bundesregierung. Dafür war wichtig, dass es ein ganz klar positiv besetzter Begriff ist, der aber andererseits nicht besonders abgrenzungsstark ist. Wir haben ihn immer wieder gegen Vereinnahmungen, auch vom Militär, verteidigen müssen.

Was wurde in den mehr als 25 Jahren seit dem Aufkommen der Zivilen Konfliktbearbeitung erreicht?

Wenn man die wirklich pazifistischen Erwartungen vom Anfang der 1990er Jahre als Messlatte nimmt, dann waren wir maximal unerfolgreich. Ich halte das aber für einen falschen Maßstab. Im Zusammenhang „Ziviler Konfliktbearbeitung“ ist es gelungen, neben den traditionellen polizeilichen und militärischen Maßnahmen im Umgang mit eskalationsgefährdeten Konflikten vielfältige Alternativen zu etablieren. Das halte ich für einen riesigen Fortschritt. Da ist viel Innovation gelungen in der Art und Weise, wie wir konstruktiver und viel effizienter mit Konflikten umgehen jenseits der Androhung und legalen Anwendung von Gewalt durch Polizei und Militär.

Wo sieht der Forscher in Ihnen bis heute die Defizite oder unentdeckte Potenziale der Zivilen Konfliktbearbeitung?

Mit Blick auf Zivile Konfliktbearbeitung in der Außen- und Entwicklungspolitik müssen wir uns die selbstkritische Frage stellen: „Ist diese Form der Zivilen Konfliktbearbeitung im Ausland nicht einfach eine neue Form von Kolonialismus?“ Wir tun so, als wenn wir den Umgang mit Konflikten irgendwie besser könnten als der Rest der Welt. Das gilt es immer wieder zu hinterfragen und das passiert ja nach meiner Wahrnehmung auch. Darum halte ich es für so wichtig, dass wir uns auch hier in Deutschland für die Zivile Konfliktbearbeitung einsetzen; da gibt es noch große unentdeckte Potenziale.

Was ist Ihnen daran so wichtig?

Frieden und Demokratie werden uns nicht geschenkt, sondern wir müssen jeden Tag daran arbeiten, dass sie erhalten bleiben. Das genau steckt so wunderbar im Begriff der Konflikt-„ Bearbeitung“. Das müssen wir in den nächsten Jahren in unserem Land noch viel stärker deutlich machen, dass Konfliktbearbeitung fundamental mit dem Erhalt unserer Demokratie und dem gesellschaftlichen Frieden zusammenhängt. Darum setze ich mich mit anderen dafür ein, dass der Begriff auch in das neue Demokratiefördergesetz aufgenommen wird.

Sie beschäftigen sich auch als Forscher mit dem Thema.

Die Konfliktbearbeitung in Kommunen, wie sie auch Pro Peace mit der Kommunalen Konfliktberatung (KKB) praktiziert, ist für mich ein wichtiges Forschungsfeld. Das entspricht sehr meinem Verständnis von praxisorientierter Friedens- und Konfliktforschung. Wenn ich hier in Augsburg als Friedensforscher gefragt werde: „Herr Weller, uns fliegt hier eine eskalierende Konfliktsituation um die Ohren, was können wir da machen?“ Dann kann ich nicht aus meinem Regal ein Buch mit den passenden Rezepten herausziehen und behaupten: „So geht’s!“ Jeder Konflikt ist anders, und ihn zu analysieren und zu verstehen, ist der erste Schritt zur Bearbeitung. Ohne das geht es nicht. So arbeitet auch die Kommunale Konfliktberatung und ich finde es wichtig, dass die Konfliktforschung besser versteht, wie eine solche Konfliktberatung funktioniert, und wir zugleich einen Beitrag dazu leisten können, auf diesem Weg den Ansatz der Zivilen Konfliktbearbeitung weiterzuentwickeln.

 

In der niedersächsischen Kleinstadt Osterholz-Scharmbeck diskutiert eine Lenkungsrunde aus Vertreter*innen von Stadtverwaltung, Polizei und anderen Akteur*innen die Konfliktanalyse der Berater*innen von Pro Peace.

Welche Erkenntnisse haben Sie dabei bisher gewonnen?

 Dass für eine solche praxisorientierte Fragestellung ein partizipativer Forschungsansatz außerordentlich geeignet und angemessen ist. Wir forschen gemeinsam mit den Praktizierenden der KKB und beforschen sie nicht! Und so steigert sich kontinuierlich unser gemeinsames Verständnis von Kommunaler Konfliktberatung und sie wird immer weiterentwickelt. Am Beginn einer Konfliktberatung steht in der Regel, dass die Verantwortlichen in einer Kommune für sich akzeptieren: Wir haben ein Problem, mit dem wir alleine nicht mehr wirklich gut zurande kommen. Die Berater* innen von Pro Peace gehen dann hin und analysieren und beschreiben das Problem als Konflikt. Was so banal klingt, macht aber schon einen Unterschied. Denn Probleme wirken zumeist lähmend, Konflikte aber sind bearbeitbar. Da entsteht Irritation, es kommen neue Ideen auf, und zwar von den Beteiligten selbst und nicht als Lösungsrezept von außen. Und dennoch ist Kommunale Konfliktberatung kein technizistisches Konzept, ähnlich der Unternehmensberatung! Es geht nicht nur darum, Probleme effizienter zu lösen, sondern um die Veränderung der Gesellschaft, die Steigerung ihrer Konfliktkompetenz. Auf diesem Weg können sich Kommunen zu ihrer Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben aktiv bekennen und etwas dafür tun.

Was passiert nach einer Konfliktanalyse?

Es geht eigentlich darum, vielfältige Institutionen für die Bearbeitung von Konflikten bereitzustellen. Also nicht darum – wie bei einer Mediation –, einmalig einen Konflikt zu „lösen“, sondern auch strukturell für zukünftige Konflikte etwas zu verbessern. Wir fragen uns also: Wie werden hier Institutionen geschaffen, die in Zukunft konstruktive Konfliktbearbeitung in der Kommune sicherstellen können?

Wie könnten solche Institutionen der Konfliktbearbeitung in Kommunen aussehen?

In den Prozessen der Kommunalen Konfliktberatung, in die ich Einblicke bekommen habe, wurde beispielsweise häufig eine Art Koordinations- und Lenkungsrunde etabliert. Darin kommen Menschen zusammen, die in der Kommune Verantwortung tragen, die aber oft noch nie zuvor so zusammengesessen haben: zum Beispiel die Leiterin des Jugendamts, der Polizeipräsident, eine in der Flüchtlingsarbeit enga gierte Pfarrerin und der Sozialreferent der Kommune. Und auf einmal werden Differenzen in der Beschreibung der Situation vor Ort sichtbar, weil die Leute an einem Tisch sitzen und gezwungen sind, auf eine wahrgenommene Differenz irgendwie zu reagieren. Da beginnt die Konfliktbearbeitung. Diese Treffen haben natürlich auch ganz praktische Funktionen für einen Beratungsprozess: Entscheidungen treffen, Ressourcen anders einsetzen und so weiter. Als Konfliktforscher würde ich aber sagen: Hier wird eine zusätzliche, neue Institution der Konfliktbearbeitung etabliert, und das kann nachhaltige Wirkungen haben.

Wenn ich an Gefährdungen für den innergesellschaftlichen Frieden in Deutschland denke, dann fällt mir die wahrnehmbare Spaltung ein, mit Symptomen wie den Montagsdemonstrationen oder den Protesten gegen Geflüchtete in den letzten Jahren. Kann eine Konfliktbearbeitung auf kommunaler Ebene überhaupt solche breiten Konflikte angehen?

Ja, ich denke schon. Der zentrale Austragungsort für die meisten gesellschaftlichen Konflikte ist die Kommune, auch wenn es oft um Konflikte geht, die etwa durch die europäische Migrationspolitik oder eine bundes- oder landespolitische Entscheidung in die Kommunen hineingetragen werden. Gerade wenn Kommunen mit schnellen Veränderungen von außen umgehen müssen, dann hilft Konfliktberatung von außen. Denken wir an die Konflikte im Kontext der Corona-Pandemie: Wie komme ich mit sogenannten Querdenker*innen ins Gespräch? Wie schaffe ich es, sie bei aller Abseitigkeit ihrer Weltsicht in ihren Ängsten ernst zu nehmen, so dass sie sich nicht gänzlich vom politischen System verabschieden oder gar beginnen, es zu bekämpfen? Was mir dabei hilft, ist der Perspektivenwechsel: Ich will doch auch, dass meine Ängste vor Atomwaffen ernst genommen werden, obwohl viele andere sagen: „Es ist noch nie aus Versehen ein Atomkrieg ausgelöst worden. Da muss man doch keine Angst haben.“ Wir müssen Orte und Austauschmöglichkeiten schaffen, wo sich alle trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen abgeholt und ernst genommen fühlen. Sonst erleben wir Situationen wie zum Jahresbeginn in Brasilien oder vor zwei Jahren in den USA, wo Gruppen sich derart radikalisieren, dass sie das ganze politische System infrage stellen und sogar physisch angreifen mit dem Sturm der Institutionen. Zivile Konfliktbearbeitung ist viel Arbeit – aber eben Arbeit am Frieden!

Frieden braucht Sie!

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Lassen Sie uns noch mal auf die aktuelle internationale Konfliktlage schauen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat nach meinem Eindruck viele Menschen in ihrem Glauben an die Kraft von Konzepten wie Ziviler Konfliktbearbeitung und gewaltfreiem Handeln erschüttert und heftige Debatten in Friedensbewegung und Friedensforschung ausgelöst. Der vom Bundeskanzler geprägte Begriff der Zeitenwende legt nahe, dass die Welt sich im letzten Jahr so dramatisch verändert hat, dass alte Erkenntnisse zum Umgang mit Konflikten, mit Krieg und Frieden infrage gestellt werden. Hat er recht?

Nein.

Warum?

Ich teile die Auffassung nicht, dass sich die Welt seit dem 24. Februar 2022 so grundlegend verändert hat. Aber unsere Wahrnehmung hat sich natürlich stark verändert. Der Bundeskanzler hat eine neue Einsicht gewonnen und verkauft dies als Zeitenwende. Aber der Krieg in der Ukraine hat schon vor dem Februar letzten Jahres stattgefunden. Wir haben ihn nur nicht ausreichend zur Kenntnis genommen.

Nicht erst seit der von Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende setzt Deutschland verstärkt auf militärische Mittel. Dagegen protestierte Pro Peace bereits bei dieser Aktion 2014.

Mit dieser sogenannten Zeitenwende begründete der Bundeskanzler eine massive Aufrüstung der Bundeswehr und einen Kurswechsel in der Außenpolitik Deutschlands. Zu Unrecht?

Ja, natürlich. Der Begriff Zeitenwende spielt auf die militärische Intervention Russlands in der Ukraine an. Drei Tage später verkündet der Bundeskanzler eine Zeitenwende. Das war politisch wirklich sehr geschickt. Und dennoch bleibt es falsch. Was hat sich denn strukturell in der Welt verändert? Imperialismus ist ja keine neue Idee, und dass mächtige Staaten völkerrechts widrige Interventionen durchführen, ist leider auch nicht originell. Für die nächsten 10 bis 15 Jahre erwarte ich eine neue Spirale aus Aufrüstung, Abschreckung und der Verfestigung von Feindbildern. Da fehlt mir aktuell leider eine Vorstellung einer positiveren Entwicklung. Es wird meiner Erwartung nach sehr mühsam werden, daraus wieder auszusteigen und auf ähnlich glückliche Ereignisse wie das Ende des Ost- West-Konflikts zu hoffen. Aber die Zukunft ist offen!

Welche Konsequenzen hat es für Organisationen der Zivilen Konfliktbearbeitung wie Pro Peace, wenn die Weltpolitik wieder zurückfällt in eine Ära der Geopolitik und einer neuen Blockkonfrontation?

Darüber habe ich so noch nicht nachgedacht. Das Ende des Ost-West- Konflikts schaffte tatsächlich den Raum, dass sich Konzepte wie die Zivile Konfliktbearbeitung etablieren konnten. Trotzdem glaube ich nicht, dass sie wegen der beschriebenen Veränderungen obsolet sind oder wir befürchten müssten, dass das alles nun wieder einkassiert wird. Aber zivilgesellschaftliche Akteur*innen der Zivilen Konfliktbearbeitung werden in Zukunft noch stärker prüfen müssen, ob sie von Regierungen für geopolitische Ziele instrumentalisiert werden. Nach dem Motto: Es ist billiger und effizienter, über Zivile Konfliktbearbeitung in Ländern Einfluss zu nehmen statt über das Militär. Da müssen wir noch viel aufmerksamer werden.

Das Gespräch führte Christoph Bongard.

 

Prof. Dr. Christoph Weller leitet den Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg. Er ist seit 30 Jahren
in der Friedensforschung tätig, aktuell unter anderem in einem partizipativen Forschungsprojekt mit der Kommunalen Konfliktberatung von Pro Peace.