
„Bringt die Waffen zum Schweigen, stoppt die Artillerie, beendet die Luftangriffe!“ Diesen Appell richtete UN-Generalsekretär António Guterres zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 an alle Konfliktparteien weltweit. Er forderte einen sofortigen Waffenstillstand, um die Kräfte auf die Eindämmung des Virus zu richten. Ein Jahr später zog das Friedensgutachten jedoch eine ernüchternde Bilanz: Die Welt ist 2020 nicht friedlicher geworden. Kriege wurden fortgesetzt, Militärausgaben erhöht, und die Folgen der Pandemie drohen viele Entwicklungsfortschritte der vergangenen Jahre zunichte zu machen.
Wie genau wirkt sich Corona auf Konflikte weltweit aus? Darüber sprachen wir mit Prof. Dr. Tobias Debiel (stellvertretender Direktor des Instituts für Entwicklung und Frieden – INEF, Universität Duisburg-Essen), Mitherausgeber des Friedensgutachtens 2021, sowie mit Christian Gülisch, Leiter des Pro Peace-Programms in Nahost.
Hier können Sie das Video der Veranstaltung in voller Länge anschauen:
„Für Entwicklungsanstrengungen ist Covid-19 eine enorme Gefahr, das belegen mittlerweile viele Studien“, erläuterte Professor Debiehl zu Beginn. „Die Weltbank hat geschätzt, dass weltweit ungefähr 150 Millionen Menschen mehr in extreme Armut fallen könnten. Das äußert sich zwar nicht in Todesfällen, aber die Menschen können sich nicht mehr entfalten – und letztlich fehlt ihnen das, was wir uns unter einem positiven Frieden vorstellen.“ Zwar habe Corona nicht direkt zum Ausbruch neuer Kriege beigetragen, so Professor Debiehl. Doch Frieden sei mehr als die bloße Abwesenheit von Waffengewalt. Zu einem positiven Frieden gehöre eben auch, dass Menschen in der Lage seien ihre Familien zu versorgen und ihr Leben frei zu gestalten. Dies werde durch die Pandemie erschwert.
Corona verschärft soziale Ungleichheiten
Christian Gülisch, Leiter der Nahost-Programme von Pro Peace, ging auf die Folgen der Pandemie vor Ort ein. Corona zeige die Konflikte und Probleme im Nahen Osten wie unter einem Brennglas, so Gülisch: „Ich gehe davon aus, dass sich in Ländern wie zum Beispiel dem Irak die Konflikte in Zukunft weiter verschärfen werden. Wir beobachten zurzeit vor allem einen Anstieg der strukturellen Gewalt: Diskriminierung und soziale Ungleichheiten nehmen zu, Vorurteile werden verstärkt und es sind vor allem die Bevölkerungsgruppen betroffen, die ohnehin benachteiligt sind. Im Irak sind dies insbesondere die Geflüchteten und die Binnenvertriebenen.“ Menschen, die auf ein tägliches Einkommen angewiesen seien, hätten dies durch die Pandemie verloren. Staatliche Hilfe oder ein soziales Sicherheitsnetz gebe es vielerorts nicht. In der Folge könnten auch terroristische Gruppen wie der sogenannte Islamische Staat wieder erstarken, warnte Gülisch.
Professor Debiehl verwies ebenfalls darauf, dass Corona bestehende Ungleichheiten weiter verschärfe: „Die Pandemie ist ein globales Risiko, aber sie trifft die Menschen sehr unterschiedlich.“ Dies zeige sich bereits auf lokaler Ebene in Deutschland, etwa beim Vergleich der Infektionszahlen in reicheren und ärmeren Stadtvierteln. Auch weltweit treffe die Pandemie sozial benachteiligte und verwundbare Bevölkerungsgruppen besonders hart. Corona habe gezeigt, dass in der globalisierten Weltwirtschaft die Arbeiternehmer*innen, die am Anfang der Produktionsketten stehen, besser abgesichert werden müssten: Etwa die Wanderarbeiter*innen in Indien und Beschäftigte in der Textilindustrie. „Diese Menschen arbeiten für den globalen Wohlstand, werden aber als erstes arbeitslos, wenn in den Industrieländern Konsumeinbrüche zu verzeichnen sind.“
Krisenprävention spart Geld
Auch für die Friedensarbeit von Pro Peace war und ist die Corona-Pandemie eine große Herausforderung. Persönliche Begegnungen, die für den Aufbau von Vertrauen zwischen Konfliktparteien so wichtig sind, waren zwischenzeitlich nicht mehr möglich. Christian Gülisch schilderte, dass die Arbeit meist in entlegenen Regionen stattfinde. Sehr wichtig seien die Partnerorganisationen vor Ort. Doch vielen Ehrenamtlichen, die in diesen lokalen Netzwerken aktiv sind, fehlten während Corona die Kapazitäten, sich in Friedensprojekten zu engagieren – weil sie selbst vor existenziellen Sorgen standen. „Gleichzeitig ist der Bedarf für Friedensarbeit durch Corona sogar noch weiter gestiegen, weil benachteiligte Gruppen kaum Gehör finden und das Konfliktpotential steigt“, betonte Gülisch.
Er sprach ein großes Lob an die Partner*innen und die Mitarbeitenden in den Programmländern von Pro Peace aus, die mit viel Einsatz und Kreativität dafür gesorgt hätten, dass Friedensprojekte fortgesetzt werden konnten. Mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl sprach Gülisch sich dafür aus, Programme wie den Zivilen Friedensdienst weiter zu stärken. Denn: „Wer in Konfliktprävention investiert, spart am Ende sogar Geld – denn dann muss man hinterher nicht die Konsequenzen auffangen, die sich aus diesen Konflikten ergeben.“
Professor Debiehl hatte ebenfalls einige Vorschläge in Richtung Politik. Er forderte, zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Impfstoffe weltweit zur Verfügung zu stellen und die Produktion von Impfstoffen im Globalen Süden anzukurbeln. Aber auch finanzielle Hilfen seien nötig: Die Länder des Globalen Südens bräuchten sowohl zielgerichtete finanzielle Unterstützung für ihre Sozial- und Gesundheitssysteme als auch Schuldenerleichterungen. Im Friedensgutachten fordern die Forscher*innen darüber hinaus eine globale Friedensdividende. Dazu Professor Debiehl: „Im Jahr 2020 ist das globale Einkommen um 3,6 Prozent zurückgegangen, die Militärausgaben sind aber um 2,6 Prozent gestiegen auf 1,75 Billionen US-Dollar. Zum Vergleich: Die weltweite Entwicklungshilfe liegt bei ungefähr 160 Milliarden US-Dollar. Angesichts der dramatischen Auswirkungen der Pandemie denken wir, dass bei den Rüstungsausgaben zumindest eine Atempause notwendig ist.“
Über das Friedensgutachten:
Das Friedensgutachten ist das gemeinsame Gutachten der deutschen Friedensforschungsinstitute (BICC / HSFK / IFSH / INEF) und erscheint seit 1987.
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