Fühlt ihr nicht die Bitterkeit?

Solidarität muss allen Menschen gelten, die vor Krieg fliehen, unabhängig von ihrer Herkunft, schreibt die syrische Journalistin Wadiaa Ferzly.

Wadiaa Ferzly ist Journalistin und lebt in Berlin.
© Dani Hasrouni

Im Februar 2022, als die russische Invasion in der Ukraine begann, verfolgten syrische Menschen voller Sorge die Nachrichten, denn sie erwarteten das Schlimmste. Ihre Sorge beruhte auf früheren Erfahrungen mit dem russischen Militär, schließlich ist Putin seit 2011 einer der stärksten Verbündeten des Assad-Regimes. Die Syrer*innen haben bereits russische Luft- und Bodenangriffe erlebt. Sie wissen, was es bedeutet, das eigene Zuhause zu verlassen, um nicht unter Trümmern zu sterben. Sie haben Belagerungen erlebt und Hunger, Hinrichtungen und Massengräber.

Das ist das gemeinsame Wissen, das Menschen aus Syrien und der Ukraine leider teilen. Es erfüllt uns mit Schrecken und bildet gleichzeitig die Basis für ein tief empfundenes Mitgefühl und Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung. Aber diese Solidarität wird auch begleitet von einer unbestreitbaren Verbitterung, die viele Syrer*innen empfinden – auch in Deutschland, wo ich lebe.

Unsere Verbitterung speist sich aus dem Eindruck, dass Europa die andauernden Verbrechen Putins in Syrien ignoriert. Erst vor wenigen Monaten wurde Putin öffentlich verurteilt – und zwar in dem Moment, als seine Verbrechen näher an Europa heranrückten. Das russische Militär agiert nach wie vor in Syrien, aber es gibt keine ernsthaften internationalen Bestrebungen, Putin dort die Stirn zu bieten. Es ist eine moralische Bankrotterklärung, einen Kriminellen nur aufgrund des Ortes seiner Verbrechen und der Identität seiner Opfer zu verurteilen.

Ein weiterer Grund für unsere Verbitterung ist, dass wir zurzeit eine Ungleichbehandlung von Geflüchteten beobachten. Einige der Hilfsleistungen, die die deutsche Regierung Ukrainer*innen ohne zu zögern zur Verfügung stellte, forderten Syrer*innen 2015 vergeblich ein. Und People of Color aus der Ukraine, die vor dem Krieg flohen, wurden an den Grenzen teilweise abgewiesen. Diese Diskriminierung und eine Flüchtlingspolitik, die mit zweierlei Maß misst, sind eine Schande für die gesamte Gesellschaft. Denn daran zeigt sich  systematischer Rassismus und eine koloniale Denkweise. Die Gefahr ist groß, dass eine solche Ungleichbehandlung zu Konkurrenz zwischen Ukrainer*innen und Syrer*innen führt. Dabei stehen sie doch auf derselben Seite, kämpfen gegen denselben Henker.

Zurzeit gibt es in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit kaum noch Aufmerksamkeit für den anhaltenden Krieg in Syrien. Als ob es nicht möglich wäre, gleichzeitig Empathie und Solidarität für die Ukrainer*innen und die Syrer*innen zu empfinden! Es ist unbestritten, dass die humanitäre Katastrophe in der Ukraine eine sofortige Reaktion erfordert. Aber das darf nicht bedeuten, dass humanitäre Hilfe entlang der politischen Agenda europäischer Staaten priorisiert wird, denn diese spiegelt nicht die Bedürfnisse  der unmittelbar Betroffenen wider. Menschenrechte und Freiheit sind unteilbar.