
Der erste Schritt von der abstrakten Idee eines Zivilen Friedensdienstes in die Praxis war kurz nach der Gründung des forumZFD das Modellvorhaben „Ausbildung in ziviler Konfliktbearbeitung“: Am 26. April 1997 eröffnete der spätere Bundespräsident Johannes Rau in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn diesen ersten Qualifizierungskurs für Friedensfachkräfte. Als nordrheinwestfälischer Ministerpräsident finanzierte er die ersten Kurse und zählt damit zu den wichtigen Wegbereitern des Zivilen Friedensdienstes.
Ulrike Kauber war eine der 16 Teilnehmenden des ersten Kurses, an dem viele angehende „Friedensfachkräfte“ aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens teilnahmen, wo die Kriege gerade erst beendet waren. Ihr Erfahrungsbericht bringt diese wichtigen Bausteine besonders anschaulich und persönlich zum Ausdruck. Er wurde erstmals in der „Dokumentation des Modellvorhabens ‚Ausbildung in ziviler Konfliktbearbeitung‘“ veröffentlicht und jetzt von der Redaktion wieder aufgespürt. Formate und Fachthemen der Kurse ebenso wie Erfahrungshintergrund der Teilnehmenden wurden in den vergangenen 20 Jahren mehrfach weiterentwickelt. Zentrale Aspekte haben sich jedoch nicht verändert: Menschen aus friedlicheren und unfriedlicheren Teilen unserer Welt lernen mit- und voneinander. Dabei geht es nicht allein um die Vermittlung des richtigen Handwerkszeugs, sondern ebenso um Selbstreflexion und persönliche Haltung. Die folgenden Passagen sind dem genannten Bericht entnommen.
„Gespannt schauen wir auf das ‚Meinungsbarometer'“, ein Stück Schnur, das auf dem Boden ausgelegt ist und im Seminarraum von einer Wand zur anderen reicht.
Die Referentin macht mit uns eine Übung zum Thema Grundlagen der Gewaltfreiheit. Gleich wird sie einige Aussagen vorlesen, zu denen wir dann Stellung beziehen sollen: Wer der Aussage zustimmt, geht zur Hundert-Prozent-Marke an einem Ende des Barometers, wer ablehnt, geht zu null Prozent. Alle Positionen dazwischen sind auch möglich.
„Wenn ich bedroht bin, würde ich Gewalt anwenden“, liest die Referentin vor. Grübeln und kurzes Durcheinander, als wir uns unseren Platz auf dem Barometer suchen. Für mich ist die Sache klar: Gewaltfreiheit hin oder her, denke ich – ich hätte keine Lust, mich einfach verprügeln zu lassen. Zielstrebig gehe ich zur Hundert-Prozent- Marke des Meinungsbarometers. Im Geiste sehe ich mich schon in heftiger Gegenwehr gegen eine fiktive Bedrohung vorgehen. Bedrohung? „Wenn jemand mir nur droht, hat er doch noch gar nichts gemacht! Da ist doch noch gar nichts passiert, warum sollte ich da Gewalt anwenden?“, sagt einer aus der Gruppe, als wir erklären sollen, warum wir uns wo aufgestellt haben. Er selbst steht bei null Prozent am anderen Ende des Raumes mir gegenüber.
„Stimmt eigentlich“, denke ich, von einer tätlichen Auseinandersetzung war ja gar nicht die Rede gewesen, sondern von Bedrohung!
Etwas ärgerlich mit mir selbst muss ich zugeben, dass ich das völlig überhört hatte.
Wie schnell hatte ich doch die Aussage undifferenziert aufgenommen und war darüber in das altbekannte Schwarz-Weiß-Schema gerutscht nach dem Motto: Der hat mich gehauen! Hat er gar nicht. Nur ich dachte, dass er das gleich tun würde, und habe deshalb vorsorglich erst´mal selbst gehauen! Ich nehme mir vor, künftig besser hinzuhören, und zwar nicht nur beim Barometerspiel.
Krunoslav Sukic (Bildmitte), kroatischer Teilnehmer des Kurses, gründete im Anschluss das Zentrum für Frieden, Gewaltfreiheit und Menschenrechte in Osijek. Das Zentrum zählt bis heute zu einer der renommiertesten Friedensorganisationen im westlichen Balkan.
Auch bei den wirklichen Konflikten muss es darauf ankommen, so überlege ich mir, richtig zuzuhören, differenziert wahrzunehmen und darauf zu achten, dass alle Beteiligten etwas auch so verstehen, wie es gemeint war. Ich habe an diesem Vormittag etwas Wichtiges gelernt. (…)
Meine Lernerfahrung – und nicht nur diese – hatte ich aus einer einfachen Übung gewonnen. In der Gruppe waren Übungen mit Spielcharakter jedoch immer ein umstrittener Punkt: „Wir haben den Krieg erlebt, wir sind bombardiert worden, waren eingeschlossen, im Gefängnis, sind vertrieben worden, und jetzt sollen wir hier Spiele machen? Das bringt uns doch nichts!“, hatten manche Teilnehmenden aus dem ehemaligen Jugoslawien oft protestiert. Klang dabei nicht auch der Vorwurf mit, dass wir (Deutschen), die wir keinen Krieg erlebt hatten, uns hier Spiele leisten könnten, während sie mit Kriegstraumata zu kämpfen hatten? Wie „so was“ ist, könnten wir sowieso nicht verstehen, wurde uns oft gesagt. Können wir wohl auch nicht. Doch muss jeder erst einen Krieg erleben, bevor er/sie berechtigt ist, sich mit Konfliktlösung zu befassen? Und wie sollten wir sonst etwas darüber lernen, wenn nicht in gespielten Situationen, in einem geschützten Raum und in der Auseinandersetzung mit uns und anderen?
Sicherlich – Übungen und Spiele sind nicht alles. Gerade eine ‚Friedensfachkraft‘ wird sich bemühen müssen, ihre Kompetenz durch Übung, Praxis- und Lebenserfahrung zu erweitern. Aber auch die Stimmen gegen die ‚Spiele‘ sind mit der Zeit leiser geworden – und das Barometerspiel haben wir, glaube ich, alle ganz gerne gespielt: wir, die Unerfahrenen, die im Frieden gelebt hatten, und sie, die aus dem Krieg gekommen waren.