
Herr Khatib, Sie sind eines der Gründungsmitglieder der „Combatants for Peace“. Diese Bewegung wurde von Menschen aus Israel und Palästina ins Leben gerufen, die nicht mehr Teil des gewalttätigen Konflikts sein wollten und stattdessen versuchen, Veränderungen durch gewaltfreien Aktivismus herbeizuführen.
Ich bin ein ehemaliger palästinensischer Gefangener. Im Alter von 14 Jahren wurde ich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und habe zehn Jahre und fünf Monate in israelischer Haft verbracht. Davor war ich Teil des Widerstands. Im Gefängnis habe ich mich an verschiedenen gewaltfreien Protestaktionen beteiligt, um die Lebensbedingungen für die Gefangenen zu verbessern. Als ich 15 Jahre alt war, haben wir uns 16 Tage lang in einen Hungerstreik begeben. Wir haben überhaupt nichts mehr gegessen, nur noch Wasser und Salz. Deshalb nennen wir das auf Arabisch „Mayomi“, „Salz und Wasser“. So haben wir überlebt. Und in den meisten Fällen hatten wir mit unseren Forderungen Erfolg.
Gab es eine bestimmte Erfahrung, die Sie dazu gebracht hat, an die Kraft der Gewaltfreiheit zu glauben?
Meine innere Veränderung in der Haft passierte nicht von jetzt auf gleich. Gefängnisse sind absolut keine schönen Orte, aber ich habe diese Herausforderung angenommen und als Möglichkeit genutzt, mich weiterzubilden. Ich habe viel über andere Konflikte gelesen und auch über beide Seiten unserer Geschichte. Ich habe im Gefängnis Hebräisch und Englisch gelernt. Wir nannten es „Revolutionäre Universität“. So bin ich aufgewachsen. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass es keine militärische Lösung für unseren Konflikt gibt. Mehr noch: Ich begann, an Gewaltfreiheit als Grundhaltung zu glauben, nicht nur als Strategie zur Lösung von Konflikten. Ich habe andere Beispiele studiert wie die Geschichte Südafrikas, die Kämpfe von Afroamerikaner*innen in den USA, Martin Luther King …
Wie hat das Studium der Gewaltfreiheit Sie verändert?
Nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, etwa zur Zeit der Zweiten Intifada im Jahr 2000, wurde ich offener für das Gespräch mit denen, die wir als Feind*innen bezeichnen. Ich verstand, dass die Befreiung unserer Völker miteinander verbunden ist, trotz aller Machtstrukturen. Wir sind mit denselben Steinen verbunden, derselben Heimat. Mein nächster Schritt war daher, auf einige Israel*innen zuzugehen. Und während der Zweiten Intifada fanden wir Menschen – hochrangige Angehörige der israelischen Armee, sogar von der Luftwaffe und Sondereinheiten –, die zu derselben Schlussfolgerung gekommen waren: Es gibt keine militärische Lösung für unseren Konflikt und beide Seiten sind gekommen, um zu bleiben.
Wie konnten Sie als ehemaliger palästinensischer Gefangener, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden war, mit israelischen Militärangehörigen Kontakt aufnehmen – noch dazu in dieser Zeit der wachsenden Spannungen und Gewalt?
Es war wirklich inmitten der Zweiten Intifada. Viele meiner Freund*innen waren getötet oder verhaftet worden, überall waren Soldat*innen und Checkpoints. Es war also weder ein romantisches Vorhaben, noch war es einfach. Es gab und gibt bis heute kaum Vertrauen zwischen beiden Seiten. Den ersten Kontakt haben wir daher über einen gemeinsamen Bekannten aufgenommen. Was hat Ihnen den Mut gegeben, in dieser Situation auf die feindliche Seite zuzugehen? Es brauchte eine große spirituelle Kraft, um jenseits der gängigen Überzeugungen zu denken und von einer anderen Wirklichkeit zu träumen. Aber ich glaube fest an diese andere Wirklichkeit. Ich bin überzeugt, dass das System, das alles Leben hier zwischen dem Fluss (der Jordan d. Red.) und dem Meer kontrolliert, weder für die Menschen aus Israel noch für die aus Palästina Gutes bringt. Das sage ich, ohne vergleichen zu wollen, welche Seite mehr leidet. Ich glaube nicht, dass die Besatzung ein dauerhaftes System ist, weil es schlecht für beide Seiten ist. Das ist der Ausgangspunkt, von dem aus wir die Reise mit unseren israelischen Partner*innen begannen. Über die Zeit hinweg haben wir Vertrauen aufgebaut. Das war der Schlüssel. Und es hat dabei geholfen, dass ich Hebräisch spreche.
Warum haben Sie sich entschieden, Ihre Geschichte in einem Buch zu erzählen?
Mein heutiger enger Freund Chen Alon und ich waren unter den Gründern der „Combatants for Peace“, die ihre persönliche Geschichte öffentlich gemacht haben. Das war im Jahr 2006. Und es war sehr, sehr schwierig. Seitdem haben die „Combatants for Peace“ sehr viele Veranstaltungen organisiert, bei denen die persönlichen Geschichten von Veränderung im Mittelpunkt stehen. Wir erzählen von unseren eigenen Erfahrungen, um dadurch andere zu inspirieren. Einige Menschen haben mir gesagt: Deine Geschichte ist wichtig. Nun bin ich selbst kein Schriftsteller. Daher habe ich meine Freundin Penina Eilberg gefragt, ob sie mit mir zusammen an dem Buch arbeiten möchte. Ich brauchte eine Person, bei der ich mich wohlfühlte und die mich dazu bringen konnte, über schmerzhafte Erlebnisse zu sprechen.
Fünf Jahre lang haben Sie an dem Buch gearbeitet. Was hat Sie in dieser Zeit angetrieben?
Ehrlich gesagt hatte ich nicht erwartet, dass es in manchen Momenten so schwer sein würde, mich meinen eigenen Erinnerungen zu stellen. Als ich aus dem Gefängnis kam, habe ich mich auf das Überleben konzentriert und versucht, einfach weiterzumachen. Ich habe alle schmerzhaften Erfahrungen beiseitegeschoben, die Folter, die seelische und die körperliche Gewalt. Tatsächlich fühle ich mich heute erleichtert. Das Buch zu schreiben, war für mich persönlich wie ein Heilungsprozess.
Sie haben vorhin erwähnt, dass Gewaltfreiheit für Sie mehr ist als eine Strategie. Was meinen Sie genau?
Lassen Sie mich zunächst sagen, dass es wirklich sehr schwer ist, Menschen davon zu überzeugen, dass Gewaltfreiheit wirkt – obwohl viele Forschungsarbeiten gezeigt haben, dass Gewaltfreiheit durch die Geschichte hindurch in Hunderten von Fällen mehr bewirkt hat als Gewalt. Und das Zweite, was ich sagen möchte, ist, dass Gewaltfreiheit sich aus Stärke nährt. Diesen Weg zu wählen, bedeutet keine Schwäche. Es bedeutet auch nicht Nichtstun. Tatsächlich hat der zweitwichtigste muslimische Gelehrte, Ali ibn Abi Talib, viele Bücher über Gewaltfreiheit geschrieben. Und als ich 15 Jahre alt war, habe ich über Jesus gelesen, der hier geboren wurde. Obwohl ich Muslim und nicht religiös bin, habe ich mich dem verbunden gefühlt, was er sagt: Liebe deinen Feind. Diese Aussage im Gefängnis zu lesen, war eine große Herausforderung, aber im Laufe der Jahre habe ich die Bedeutung verstanden.
Gab es je Momente, in denen Sie an Ihrem gewaltfreien Aktivismus gezweifelt haben?
Ich bin von Natur aus eher optimistisch, würde ich sagen. Optimismus und sogar Lachen kann eine Überlebensstrategie sein. Wir haben das im Gefängnis eingesetzt. Heute macht es mir Hoffnung, wenn ich sehe, wie sich die jüngere Generation politisch engagiert, sowohl innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft als auch grenzüberschreitend. Unterstützt von Pro Peace versuchen wir bei den „Combatants for Peace“ zurzeit, diese Jugendgruppen weiter aufzubauen.
Die Combatants for Peace waren 2017 für den Friedensnobelpreis nominiert.
Warum ist es so wichtig, jüngere Menschen mit einzubeziehen?
Im Gegensatz zu Deutschland ist die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung sehr jung. Deshalb ist es für uns von zentraler Bedeutung, auf die Jugend zuzugehen und sie einzubinden. Palästinensische Teenager, die in der Zone A des Westjordanlands aufwachsen, welche unter der Kontrolle der palästinensischen Behörden steht, haben überhaupt keine Berührungspunkte mit normalen israelischen Bürger*innen. Sie kennen nur die israelischen Militärs, die sie am Ortsausgang passieren. Oder noch schlimmer: Sie treffen auf den Straßen auf israelische Siedler*innen.
Beim Namen „Kämpfer für Frieden“ denken die meisten Menschen an Männer und meines Wissens waren die meisten Gründungsmitglieder Männer. Wie sieht es heute mit der Beteiligung von Frauen in der Bewegung aus?
Das stimmt, die „Combatants for Peace“ wurden hauptsächlich von Männern gegründet. Wir haben hart daran gearbeitet, unsere Schwestern einzubinden. Mittlerweile ist eine Frau unsere palästinensische Co-Direktorin. Tatsächlich gibt es heute mehr Frauen als Männer in den Führungsrollen der Bewegung. Ich bin sehr stolz darauf, Teil dieser Veränderung in der Organisation zu sein, Vorbilder aufzuzeigen und sowohl die Jugend als auch Frauen stärker einzubinden.
Haben Sie eine politische Vision für die Lösung des Nahostkonflikts?
Ehrlich gesagt beschäftige ich mich normalerweise nicht so sehr mit der Diskussion über das Ergebnis dieses Prozesses, ob es nun ein Staat, zwei Staaten oder sogar drei Staaten werden. Wir setzen uns vielmehr für bestimmte Werte ein, allen voran der Respekt vor der Selbstbestimmung der Menschen und das Recht auf ein Leben in Freiheit und Würde. Wir können anerkennen, dass beide Völker in dieses Land gehören, ohne gleichzeitig das derzeitige System zu befürworten. Palästinensische Familien haben eine sehr klare Verbindung zu diesem Land. Meine eigene Familiengeschichte reicht bis ins Osmanische Reich zurück, wir leben hier seit Generationen. Auch meine Verwandten in Jordanien, Südamerika und anderen Teilen der Welt haben diese Verbindung. Der Fall der Israel*innen ist ganz anders, aber es gibt eine Verbindung auf spiritueller, kultureller und religiöser Ebene. Ich kann das akzeptieren, aber ich kritisiere, wie diese Verbindung sich in einem System ausdrückt, dass nur einer Seite dient.
Sie gehen mit den „Combatants for Peace“ regelmäßig auf Vortragsreise durch die USA und Europa. Was ist Ihre Botschaft an die Menschen in Deutschland?
Deutschland hat eine ganz besondere Rolle, zum einen wegen seiner starken Position in der EU und in der internationalen Politik und zum anderen wegen seiner Geschichte. Es ist eng mit diesem Konflikt verbunden, wie wir alle wissen. Wir möchten sehr gerne, dass die deutsche Zivilgesellschaft und wenn möglich auch der Bundestag unseren Einsatz für Gewaltfreiheit unterstützen. Eine solche internationale Fürsprache verhilft uns zu mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung in der Region.
Die politische Situation in Israel und Palästina war in jüngster Zeit sehr angespannt: Die Gewalt ist wieder eskaliert, in Israel wurde zum vierten Mal innerhalb von zwei Jahren gewählt und im Westjordanland gab es Proteste gegen die Verschiebung der dortigen Wahl. Bereiten Ihnen diese Entwicklungen Sorgen?
Was mir die Hoffnung nimmt, ist das politische System, das unser Leben kontrolliert. Die politischen Entscheidungsträger*innen in Israel wollen den Status quo erhalten. Das ist die größte Herausforderung, vor der wir stehen. Auch die Verschiebung der Wahlen in Palästina war eine große Enttäuschung. Wir brauchen regelmäßige Wahlen für die Palästinenser*innen! Das bestehende politische System beinhaltet viel Trennendes und viele Ungerechtigkeiten. Die Besatzung dauert an, der Siedlungsbau geht weiter und es gibt mächtige Kräfte, die diesen Status quo erhalten wollen.
Was stimmt Sie dann optimistisch?
Als wir 2005 begonnen haben, über gemeinsamen gewaltfreien Aktivismus zu sprechen, gab es dafür nur wenig Akzeptanz. Im Laufe der Jahre hat sich das jedoch verändert. Jüngstes Beispiel: In den Stadtvierteln Scheich Dscharrah oder Silwan in Ostjerusalem sind palästinensische Hausbesitzer*innen und Familien von Zwangsräumungen bedroht. Dort und auch an anderen Orten, wie etwa in den südlichen Hügeln von Hebron und im Jordantal, schließen sich einige Israel*innen den Protesten der palästinensischen Bevölkerung an. Wir haben kürzlich eine Demonstration in Bait Dschala (Westjordanland) gegen den Krieg in Gaza und gegen die Vertreibung in Scheich Dscharrah organisiert. Ehrlich gesagt hatten wir Angst davor, dass Israel*innen sich dem Protest anschließen, weil die Menschen während des Kriegs in Gaza sehr zornig waren. Ich war dann aber positiv überrascht, dass alles gut ging.
Etwas allgemeiner gesprochen: Ich stehe mit einem Bein in der Realität und mit einem in den Träumen. Das hilft mir, weiterzumachen.
Das Gespräch führten Luis Flórez Cote und Christoph Bongard.
Informationen zur Bestellung des Buches (bisher nur auf Englisch verfügbar!) finden Sie hier.