"Wir bräuchten ein Pazifismusministerium"

Interview mit dem Journalisten und Buchautor Heribert Prantl

Heribert Prantl ist Jurist, Journalist und Publizist. Bei der Süddeutschen Zeitung leitete Prantl die Ressorts Innenpolitik und Meinung. Von 2011 bis 2019 war er Mitglied der Chefredaktion. Als Autor setzt er sich leidenschaftlich für Frieden und Verständigung ein. Sein neues Buch „Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen“ erschien 2024 im Heyne Verlag.
Heribert Prantl sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt.
© Heribert Prantl

Herr Prantl, warum haben Sie jetzt gerade ein Buch über Frieden geschrieben?

Weil der Frieden so weit weg ist wie schon lange nicht mehr.

Ihr Buch trägt den Untertitel „Die Gewalt verlernen“. Wie geht das denn?

Der große Dramatiker Anton Tschechow gab denen, die ihm nacheifern und Theaterschriftsteller werden wollten, folgenden Hinweis: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr hängt, muss es im letzten Akt auch abgefeuert werden.“ Das ist ein kluger Satz, nicht nur für Theaterschriftsteller. Es ist ein inspirierendes Motto für die Friedenserziehung. Wenn man Kindern im ersten Akt ihres Lebens Gewehre ins Regal hängt, werden sie die später auch abfeuern. Ein Mensch, der in täglichem Unfrieden, in Armut, in Rohheit und einem Klima von Gewalt aufwächst, der wird es schwer haben, ein friedlicher Mensch zu werden. 

© Sven Simon

Die Gewalt verlernen – dazu braucht es Friedenserziehung. Sie kann nicht früh genug anfangen. Und sie ist nicht Konfliktvermeidung, sondern Unterricht darin, Konflikte zu erkennen, zu benennen, zu verhandeln und zu lösen – und die unlösbaren auszuhalten. Friedenserziehung ist Bildung in der Kunst des Kompromisses. Sie ist Schule der Neugier, die dem anderen begegnet, ohne gleich zu werten. Friedenserziehung ist ein Thema nicht nur für Schulen, sie ist eine lebenslange Aufgabe. Friede ist kein natürlicher Zustand. Er muss gelehrt, er muss gestiftet, er muss geschaffen werden. 

"Frieden" ist ja ein großes Wort. Was bedeutet es genau für Sie?

Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg, Frieden ist viel mehr. Frieden ist ein Zustand der Sicherheit und der Eintracht im Zusammenleben von Menschen, Gruppen und Staaten. Frieden ist die Bereitschaft zur Konfliktlösung ohne Gewalt – kein statischer Zustand, sondern ein fortlaufender Prozess. Für mich bedeutet und erfordert Frieden die Einhaltung der Menschenrechte, soziale Sicherheit und die Möglichkeit, in Freiheit und Würde zu leben. Nicht der Krieg, der Frieden ist der Ernstfall. Es geht um dieses Bewusstsein und das Denken, um das Reden und Handeln, das daraus folgt. Der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns zu bewähren haben. Und so steht es in einer großen Rede des Bundespräsidenten Gustav Heinemann: „Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.“ 

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Die klassischen Grundrechte sind um des Friedens willen entstanden. Die sogenannten Grundrechte der zweiten Generation, also die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Freiheiten auch. Und das gesamte Umweltrecht ist entstanden nicht nur um Frieden mit der Natur, sondern auch um Frieden mit den künftigen Generationen zu erreichen. Dieser Frieden ist keine Leerformel, kein Füllwort und keine Schmuckvokabel. Er ist das tragende Prinzip unserer Verfassung, das als tragendes Prinzip aber noch nicht entwickelt worden ist. Frieden ist etwas, auf dass man nicht wartet, sondern das man machen muss. 

Der Zweite Weltkrieg ist jetzt seit 80 Jahren vorbei. Deutschland hat sich nach dessen Ende dem Frieden verschrieben. Wie zeitgemäß ist dieser Nachkriegspazifismus heute noch? 

Je unzeitgemäßer er erscheint, umso wichtiger ist er. Die Nachkriegsstimmung fand ihren Ausdruck in den Parolen „Nie wieder Krieg!“, „Nie wieder Militär!“ und „Nie wieder Diktatur!“ Bei den Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee hat die einfache und einprägsame Formel einigen Zuspruch erhalten, die lautete: „Der Krieg ist verboten.“  Die Schrecken des Hitler-Kriegs waren allgegenwärtig. Es waren daher die Stimmen derer stark, die für die Ächtung jeglichen Kriegs und jedweder Kriegsvorbereitung warben, die für eine Politik der Delegitimierung von Militär und Gewalt eintraten und für ein starkes Recht zur Kriegsdienstverweigerung. Nie mehr dürfe vom deutschen Boden Krieg ausgehen, das Land müsse auf einen allumfassenden Pazifismus eingeschworen werden, es müsse, wie Carlo Schmid sagte, so ein „neues gesundes Vorbild“ auch für andere Staaten werden.  

Dieser Geist war nicht nachhaltig, er hat die allerersten Nachkriegsjahre nicht überlebt. Bert Brecht hat versucht, dagegen anzuschreiben. Sein Schreiben hatte Kraft, aber wenig Wirkung. Die Aufrüstung schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er nicht aufhalten. »Das große Karthago«, so schrieb er 1951, »führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.« Das klingt agitatorisch, ist aber die Wahrheit. Und im Ernst der Lage ist Agitation besser als Apathie. Europa erginge es in einem dritten Weltkrieg so wie Karthago, schlimmer noch. Die apokalyptischen Reiter sind nämlich heute atomar bewaffnet.

Deshalb brauchen wir ein neues System der Befriedung. Deshalb brauchen wir alle Fertigkeiten, die Frieden stiften und bewahren können. Deshalb brauchen wir eine neue Bertha von Suttner, deshalb brauchen wir einen neuen Erich Maria Remarque. Remarque lässt in seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ seinen Helden Paul Bäumer erzählen und beschreibt den Frontkoller von dessen Kameraden Müller und Kropp: „Müller rupft Gräser aus und kaut daran. Plötzlich wirf der kleine Kropp seine Zigarette weg, trampelt wild darauf herum, sieht sich um, mit einem aufgelösten und verstörten Gesicht, und stammelt: ‚Verfluchte Scheiße, diese verfluchte Scheiße‘“. Bertha von Suttner und Erich Maria Remarque haben die verfluchte Scheiße gerochen; sie haben aufgeklärt darüber, was Krieg bedeutet, wie junge Männer von Geschossen zerfetzt, wie Völker traumatisiert werden, wie Kriegsherren wahnhaften Irrtümern erliegen. Die pazifistische Idee wurde international und milieuübergreifend. In Zeiten des Ukrainekrieges braucht sie neue Kraft. Ich wünschte mir, wir hätten nicht nur ein Verteidigungsministerium, sondern auch ein Pazifismusministerium.

Das Grundgesetz nennen Sie ein „Manifest für den Frieden“. Zuletzt wurde es ein wenig angepasst, um eine massive Aufrüstung zu finanzieren. Wie sehen Sie diese Entscheidung?

Kritisch. Das Grundgesetz ist seinem Wortlaut nach noch immer ein Manifest des Friedens, der politische Status quo ist es leider nicht. Die einschlägigen Grundgesetzartikel wurden und werden von der Regierungspolitik und vom Militär sehr extensiv ausgelegt, dass die Rüstungspraxis, die Waffenlieferungspraxis und die Einsatzpraxis mit dem Friedensgebot der Präambel kollidieren. Die deutschen Panzer rasseln am Grundgesetz vorbei, die deutschen Raketen und Haubitzen schießen dort vorbei; sie töten aber gezielt. 

Zu einem Buch, das ein unentbehrlicher Ratgeber ist, sagt man „Vademecum“. Das kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie „Geh mit mir!“ Es gibt solche unentbehrlichen Ratgeber für alle Berufsgruppen und für alle Lebenslagen. Der unentbehrliche Ratgeber für alle Staatsbürger, auch für die in Uniform, heißt Grundgesetz. Dort sind die Grundrechte formuliert, die ziemlich verlässliche Begleiter der Bürger geworden sind. Wenn es freilich um die Auslandseinsätze der Bundeswehr geht, ist es vorbei mit dem Vademecum. Geh mit mir? Das Grundgesetz geht nicht mit den deutschen Soldaten ins Ausland. Es liegt auch nicht den Waffenexporten und den Waffenlieferungen bei. Von der Bundeswehr und Waffenlieferungen als „Instrument einer umfassend angelegten Sicherheitspolitik“, wie es in den Weißbüchern der Bundeswehr wie selbstverständlich beschrieben wird, davon findet man im Grundgesetz kein Wort. Es gilt, die Verfassung wieder ernst zu nehmen. Sie ist ein Manifest des Friedens. 

Wie kann die Bundesregierung das Geld einsetzen, um sinnvoll in den Frieden zu investieren?

Die neuen Milliarden-Sondervermögen lockern die Schuldenbremse und führen dazu, dass Deutschland künftig mehr Geld für Verteidigung ausgeben kann – auch für Zivilschutz, für die Nachrichtendienste, für Cybersicherheit. Ich bin für Verteidigungstüchtigkeit, aber gegen Kriegstüchtigkeit. Indes: Die Fixierung jedes EU-Staates nur auf die eigene nationale Sicherheit wird für diese Sicherheit nicht sorgen können. Das heißt:  Es wird seine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik geben müssen. Im Jahr 2018 hat die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Europaparlament gefordert, „eines Tages eine echte europäische Armee zu schaffen.“ Eines Tages ist jetzt. Es drängt die Zeit. 

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Aber, noch einmal: Militärische Abschreckung allein wird nicht für Sicherheit sorgen. Wir dürfen uns nicht in eine Rüstungsgeilheit hineinreden. Ich erschrecke, wenn ich lese, dass die Aufrüstung in Lettland jetzt schon im Klassenzimmer beginnt und für die Schülerinnen und Schüler der zehnten und elften Klassen verpflichtend ein „Verteidigungsunterricht“ eingeführt wurde – und da auch deutsche Politiker applaudieren. 

Eine Überschrift im Berliner Tagesspiegel lautete neulich jubelnd: „Endlich Aufrüstung!“. Da bin ich sehr erschrocken. Ich erschrecke, wenn Aufrüstung als Ideal und als Ziel und als Problemlösung beschrieben wird. Mir fällt ein, wie der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker schon 1957 vor einem Schutz durch atomare Abschreckung gewarnt hat: „Die großen Bomben“, so hat er gesagt, „erfüllen ihren Zweck, den Frieden und die Freiheit zu schützen, nur, wenn sie nie fallen. Sie erfüllen diesen Zweck auch nicht, wenn jedermann weiß, dass sie nie fallen werden, Eben deshalb besteht die Gefahr, dass sie eines Tages wirklich fallen werden.“ Dass dieser Tag im Ukrainekrieg sein könnte – diese Angst entspringt keinem katastrophischen, sondern einem realistischen Geschichtsdenken. Der Einsatz von Atomwaffen wäre die Katastrophe, die der Philosoph Günter Anders 1972 beschrieben hat: Das wäre Endzeit und Zeitenwende; das wäre das Ende des eurasischen Kontinents. Es ist ungut, wenn alle politischen Weichen nur noch auf militärisches Handeln gestellt werden. Es ist ungut, wenn nur noch vom Krieg und der Aufrüstung die Rede ist. 

In Ihrem Buch fordern Sie auch eine neue Friedensbewegung. Von wem kann diese ausgehen und was wären ihre Forderungen?

Das politische Testament der vor zwei Jahren verstorbenen Theologin und Grünen-Politikerin Antje Vollmer endete mit dem Satz: „Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostenbaren, einzigartigen und wunderbaren Planeten, der muss Hass und Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur noch diese eine Zukunftsoption.“ Antje Vollmer hatte und hat recht. Sie braucht Nachfolgerinnen. Leider sieht es da bei den Grünen ganz schwarz aus. Ich hoffe auf eine neue Generation bei den Grünen. Ich hoffe auf eine neue Generation in der SPD. Ich setze auf friedensbewegte Christinnen und Christen. Ich setze auch auf Schriftsteller und ihre Kraft. Ich setze auf die Kraft der Hoffnung. Ich setze auf die Kraft der Hoffnung. Ich wünsche mir eine Wiederaufnahme von Abrüstungsverhandlungen. Ich wünsche mir eine Welt ohne Atomwaffen

Sie engagieren sich als Journalist aktiv für den Frieden. Welche Rolle können die Medien dabei spielen? Ist das überhaupt ihre Aufgabe?

Wenn Journalisten zu Bellizisten werden, verkennen sie ihre Aufgabe. Es ist Aufgabe des Journalismus in der Demokratie, die Wege zum Frieden zu suchen und die Wege des Friedens zu gehen. Das Streiten darüber, wo diese Wege sind und wie man sie geht, das gehört dazu. Kriegstreiberei gehört nicht dazu. Diese beflissene Treiberei hatten wir im 20. Jahrhundert schon zur Genüge. Es wird ja viel von Aufarbeitung der Geschichte geredet. Es ist auch die Aufarbeitung der Rolle notwendig, die der deutsche Journalismus vor und im Ersten und Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Es war keine gute Rolle. Viel zu viele Medien haben mit Eifer und Lust in die Glut geblasen, bis es lichterloh gebrannt hat

Bei Nachrichten und Berichten wünsche ich mir den weiten journalistischen Blick, der die Diskussionen in ihrer ganzen Bandbreite abbildet. Bei den Kommentaren, Kolumnen und Leitartikeln, beim Meinungsjournalismus also, der ja seit Jahrzehnten meine Domäne ist, wünsche ich mir, dass die Medien sich dessen bewusst sind, dass das Friedensgebot zu den obersten und wichtigsten Prinzipien des Grundgesetzes gehört. Ich wünsche mir, dass die Medien bei der Suche nach innerem und äußerem Frieden eine gute und verantwortungsbewusste Rolle spielen. Wenn unsereiner den klugen Satz des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt im Kopf hat, dann schadet das nichts: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Piet van Riesenbeck.