
Guten Abend, liebe Freundinnen und Freunde.
Auch wenn es viel Lärm und Aufregung um unsere Feier gegeben hat, wollen wir nicht vergessen, dass es heute vor allem um die Erinnerung und die Gemeinschaft geht. Der Lärm hält noch an, und doch er liegt nun hinter uns, denn im Herzen dieses Abends herrscht eine tiefe Stille – die Stille der Leere durch den Verlust.
Meine Familie und ich haben Uri im Krieg verloren. Er war ein freundlicher, kluger und lustiger junger Mann. Fast zwölf Jahre sind vergangen, doch es fällt mir noch immer schwer, öffentlich über ihn zu reden.
Wenn ein geliebter Mensch stirbt, stirbt mit ihm auch eine vollständige, einzigartige und persönliche Kultur. Eine Kultur mit ihrer ganz besonderen, eigenen Sprache und ihrem eigenen Geheimnis, die es so oder ähnlich nie wieder geben wird.
Es ist unbeschreiblich schmerzhaft, mit diesem entschiedenen „Nein“ zurechtzukommen. In manchen Momenten reißt es fast alles an sich, was man hat, saugt ein jedes „Ja“ ein. Es ist schwierig und anstrengend, ständig gegen den Sog des Verlusts anzukämpfen.
Es ist schwierig, die Erinnerung vom Schmerz zu trennen. Es tut weh, sich zu erinnern – aber es schmerzt noch mehr, zu vergessen. Wie leicht ist es in dieser Situation, dem Hass, der Wut und der Rachsucht nachzugeben.
Doch jedes Mal, wenn Wut und Hass mich verleiten wollen, spüre ich, dass ich den lebendigen Kontakt zu meinem Sohn verliere. Etwas ist dort versiegelt. Deshalb traf ich meine Entscheidung. Und ich glaube, dass diejenigen, die heute Abend hier sind, die gleiche Entscheidung getroffen haben.
Ich weiß, dass Schmerz letztendlich auch zu Lebensmut, Schaffenskraft und guten Taten führen kann. Trauer isoliert nicht. Sie verbindet und stärkt. Hier können sich selbst alte Feinde – Israelis und Palästinenser – in ihrer Trauer und sogar durch sie verbinden.
In den letzten Jahren habe ich viele Hinterbliebenenfamilien kennengelernt. Ich habe ihnen gesagt, dass man meiner Erfahrung nach auch im größten Schmerz daran denken sollte, dass auch alle anderen Familienmitglieder das Recht haben, so zu trauern, wie sie möchten, wie sie sind und wie ihre Seele es von ihnen verlangt.
Niemand kann einer anderen Person vorschreiben, wie sie zu trauern hat. Das gilt für private Familien ebenso wie für die größere „Hinterbliebenenfamilie“.
Uns verbindet das starke Gefühl eines gemeinsamen Schicksals und eines Schmerzes, den nur wir kennen, und für den es draußen im Licht fast keine Worte gibt. Wenn die Definition einer „Hinterbliebenenfamilie“ aufrichtig und ehrlich gemeint ist, respektieren Sie bitte unseren Weg. Er verdient Respekt. Er ist kein einfacher Weg, er ist nicht offensichtlich und nicht ohne seine inneren Widersprüche. Aber er ist unser Weg, dem Tod der von uns geliebten Menschen und unserem Leben nach ihrem Tod einen Sinn zu geben. Und er ist unser Weg zu handeln und aktiv zu werden, statt zu verzweifeln und zu resignieren, damit der Krieg eines Tages verblassen und vielleicht sogar ganz verschwinden möge und wir beginnen können zu leben. Ein erfülltes Leben, das nicht nur von Krieg zu Krieg und von Katastrophe zu Katastrophe reicht.
Wir, Israelis und Palästinenser, die wir in unseren Kriegen gegeneinander diejenigen verloren haben, die uns vielleicht wichtiger sind als unser eigenes Leben, wir sind dazu verdammt, die Realität durch eine offene Wunde zu berühren. Wer eine solche Wunde hat, macht sich keine Illusionen mehr. Wer eine solche Wunde hat, weiß, dass das Leben aus großen Zugeständnissen, aus endlosen Kompromissen besteht.
Ich glaube, dass diese Trauer uns, die wir heute Abend hier sind, zu realistischeren Menschen gemacht hat. Wir sehen zum Beispiel klar, wo die Grenzen der Macht liegen und welche Illusionen die Mächtigen umgeben.
Und wir sind misstrauischer, als wir es vor der Katastrophe waren, und von Abscheu erfüllt, wann immer wir hohlen Stolz, arrogante nationalistische Parolen oder hochmütige Stellungnahmen von Führern erkennen. Wir sind mehr als misstrauisch: Wir sind geradezu allergisch. Diese Woche feiert Israel sein 70-jähriges Bestehen. Ich hoffe, dass wir noch viele weitere Jahrestage und Generationen von Kindern, Enkeln und Urenkeln feiern werden, die hier mit einem unabhängigen palästinensischen Staat zusammenleben werden. Ich hoffe, dass sie sicher, friedlich, kreativ und vor allem in einem gelassenen Umgang und in guter Nachbarschaft miteinander leben und sich hier zu Hause fühlen werden.
Was ist ein Zuhause?
Ein Zuhause ist ein Ort, dessen Wände, dessen Grenzen eindeutig und akzeptiert sind, dessen Existenz unumstößlich und entspannt ist; dessen Bewohner ihre persönlichen Verhaltensregeln kennen und in dem die Beziehungen zu den Nachbarn geregelt sind. Es vermittelt ein Gefühl von Zukunft.
Doch egal wie viele liebliche patriotische Worte in den nächsten Tagen gesprochen werden: Wir Israelis sind auch nach 70 Jahren noch nicht angekommen. Wir sind noch nicht zu Hause. Israel wurde gegründet, damit das jüdische Volk, das sich fast nie irgendwo auf der Welt zu Hause gefühlt hat, endlich ein Zuhause hat. Doch heute, 70 Jahre später, mag das starke Israel eine Festung sein – ein Zuhause ist es nicht.
Die Lösung für die komplexen israelisch-palästinensischen Beziehungen kann auf eine kurze Formel gebracht werden: Solange die Palästinenser kein Zuhause haben, werden auch die Israelis keines haben.
Umgekehrt gilt auch: Solange Israel kein Zuhause ist, wird auch Palästina keines sein.
Ich habe zwei Enkelinnen. Sie sind sechs und drei Jahre alt. Für sie ist Israel selbstverständlich. Sie halten es für selbstverständlich, dass wir einen Staat haben, in dem es Straßen, Schulen und Krankenhäuser gibt, einen Computer im Kindergarten und eine reiche, lebendige hebräische Sprache.
Ich gehöre einer Generation an, für die all dies nicht selbstverständlich ist, und aus dieser Position heraus spreche ich hier zu Ihnen. Es ist eine fragile Position, in der ich mich ebenso lebhaft an die existentielle Angst erinnere wie an die starke Hoffnung, dass wir nun endlich zu Hause sein könnten.
Doch wenn Israel ein Land besetzt, wenn es ein anderes Volk 51 Jahre lang unterdrückt und in den besetzten Gebieten ein Apartheid-Regime aufbaut, dann hat es weniger von einem Zuhause.
Und wenn Verteidigungsminister Lieberman beschließt, friedliche Palästinenser von einer Veranstaltung wie dieser auszuschließen, dann hat Israel weniger von einem Zuhause.
Wenn israelische Scharfschützen mehrere Dutzend palästinensische Demonstranten töten, die meisten von ihnen Zivilisten, dann hat Israel weniger von einem Zuhause.
Wenn die israelische Regierung versucht, fragwürdige improvisierte Deals mit Uganda und Ruanda abzuschließen und das Leben Tausender Asylsuchender gefährdet, indem es sie ausweist und einem ungewissen Schicksal überlässt, hat Israel für mich weniger von einem Zuhause.
Und wenn der Premierminister Menschenrechtsorganisationen diffamiert und gegen sie hetzt, wenn er nach Möglichkeiten sucht, Gesetze zu erlassen, die das Oberste Gericht umgehen, und wenn die Demokratie und die Gerichte ständig in Frage gestellt werden, hat Israel noch weniger von einem Zuhause – für jeden.
Wenn Israel Bürger am Rande der Gesellschaft vernachlässigt und diskriminiert, wenn es die Einwohner im Süden Tel Avivs im Stich lässt und immer weiter schwächt, wenn es sein Herz gegenüber den Nöten derjenigen verschließt, die keine Stimme haben – Holocaust-Überlebenden, Hilfsbedürftigen, Alleinerziehenden, Älteren, Pflegeheimen für Kinder, die aus ihren Familien genommen wurden, und heruntergekommenen Krankenhäusern – hat Israel weniger von einem Zuhause. Es ist ein dysfunktionales Zuhause.
Wenn es 1,5 Millionen palästinensische Bürger Israels vernachlässigt und diskriminiert, wenn es das große Potenzial, dass das gemeinsame Leben hier birgt, schlicht brachliegen lässt, hat es weniger von einem Zuhause, sowohl für die Mehrheit als auch für die Minderheit.
Und wenn Israel Millionen konservativen und Reformjuden ihr Jüdischsein abspricht, hat Israel ebenfalls weniger von einem Zuhause. Und jedes Mal, wenn Künstler und Kulturschaffende – mit ihren Werken – Loyalität und Gehorsam beweisen müssen, nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber der regierenden Partei, dann hat Israel weniger von einem Zuhause.
Israel bereitet uns Schmerzen. Denn es ist nicht das Zuhause, das wir uns wünschen. Es ist uns bewusst, wie wundervoll es ist, einen Staat zu haben, und wir sind stolz auf seine Errungenschaften in zahlreichen Bereichen wie Industrie und Landwirtschaft, Kunst und Kultur, IT, Medizin und Wirtschaft. Doch wir fühlen auch den Schmerz seiner Verzerrung.
Und die Menschen und Organisationen, die sich heute hier zusammengefunden haben, allen voran das Family Forum und Combatants for Peace, aber auch viele andere, sind vielleicht die, die am meisten dazu beitragen, dass Israel im wahrsten Sinne des Wortes ein Zuhause wird.
An dieser Stelle möchte ich verkünden, dass ich die Hälfte des Preisgeldes für den Israel-Preis, den ich übermorgen erhalten werde, an das Family Forum und an die Organisation Elifelet, die sich um die Kinder von Asylsuchenden kümmert, spenden werde. Für mich verrichten diese Gruppen eine heilige Arbeit – oder vielmehr tun sie einfach menschliche Dinge, die eigentlich Aufgabe der Regierung sind.
Zuhause.
Ein Ort, an dem wir ein friedliches und sicheres Leben leben, ein ungetrübtes Leben, in dem wir nicht versklavt werden von Fanatikern aller Art, die einer totalitären, messianischen oder nationalistischen Vision folgen. Ein Zuhause, dessen Bewohner nicht nur ein Material sind, das für ein Prinzip verfeuert wird, das größer ist als sie selbst und für sie vermutlich unbegreiflich. In dem das Leben an seiner Menschlichkeit gemessen wird. In dem ein Volk eines Morgens aufwacht und plötzlich merkt, dass es menschlich ist. Und in dem ein Mensch das Gefühl hat, an einem unbestechlichen, solidarischen und wahrhaft egalitären Ort zu leben, der nicht aggressiv und nicht habgierig ist. In einem Staat, der für die Person agiert, die darin lebt, für jede Person, die darin lebt, aus Mitgefühl und aus Toleranz für all die verschiedenen Dialektiken des „Israelischseins“. Denn „Das sind die lebendigen Worte Israels“.
Ein Staat, der nicht nur impulsgesteuert handelt, sich nicht mit endlosen Tricksereien und Manipulationen durchmogelt, mit polizeilichen Ermittlungen, der keinem Zickzackkurs folgt und nicht ständig zurückrudert. Allgemeinen gesprochen: Ich wünsche mir, dass unsere Regierung aufrichtiger und weiser wird. Man darf Träume haben. Man darf auch Errungenschaften bewundern. Es lohnt sich, für Israel zu kämpfen. Für unsere palästinensischen Freunde wünsche ich mir außerdem Folgendes: ein Leben in Unabhängigkeit, Freiheit und Frieden und den Aufbau einer neuen, veränderten Nation. Und ich wünsche mir, dass unsere Enkel und Urenkel, sowohl die palästinensischen als auch die israelischen, in 70 Jahren hier stehen und ihre jeweilige Version der Nationalhymne singen werden.
Dabei gibt eine Zeile, die sie gemeinsam singen können – auf Hebräisch und auf Arabisch: „Zu sein ein freies Volk, in unserem Land“. Vielleicht wird es dann, endlich, eine realistische und zutreffende Beschreibung für beide Völker sein.