Westbalkan: Der beklemmende Jahrestag eines Völkermords

Warum es auch 30 Jahre nach Srebrenica im Westlichen Balkan noch keine echte Versöhnung gibt

Zwischen dem 11. und 19. Juli 1995 fand mitten in Europa ein Völkermord statt. Die bosnisch-serbische Armee und Paramilitärs unter der Führung des Generals Ratko Mladić eroberten die bosniakische Enklave im Osten von Bosnien und Herzegowina nahe der Grenze zu Serbien, verschleppten und ermordeten über 8000 Männer und Jungen. Der Name Srebrenica ist seitdem untrennbar mit der Geschichte des größten Massakers in Europa seit dem 2. Weltkrieg verknüpft. Heute herrscht in Bosnien und Herzegowina im Rahmen des Dayton-Abkommens ein zerbrechlicher Frieden.
Postkarten, adressiert an die Mütter von Srebrenica, hängen aufgereiht an einem Zaun.
© Pro Peace

Die Auswirkungen des Konflikts schwelen bis heute

Die muslimische und kroatische Bevölkerung des heutigen Bosnien und Herzegowina stimmte 1992 in einem Referendum für die Abspaltung vom serbisch dominierten Rumpf-Jugoslawien. Schon die Ankündigung des Referendums führte zu Spannungen. Nach der internationalen Anerkennung der unabhängigen Republik Bosnien und Herzegowina im April 1992 eskalierte der Konflikt und serbische Paramilitärs plünderten und verwüsteten Srebrenica. Im Sommer 1992 begann eine dreijährige Belagerung, erst im März 1993 erreichte der erste Hilfskonvoi die Stadt, deren Bevölkerung durch Geflüchtete aus den umliegenden Gebieten gewachsen war. Im April 1993 erklärte der UN-Sicherheitsrat Srebrenica zur Sicherheitszone. Dies verhinderte zwei Jahre später jedoch nicht den Genozid an den bosnischen Muslimen, die dort Schutz suchten. Erst nach Ermordung und Flucht Hunderttausender griff die internationale Gemeinschaft ein und beendete 1995 durch das Dayton-Abkommen offiziell den Bürgerkrieg. Das Srebrenica-Massaker wurde sowohl vom Internationalen Jugoslawien-Tribunal als auch vom Internationalen Gerichtshof als Genozid eingestuft.

Das Milosević-Regime unterdrückte Informationen über Krieg und Völkermord. Auch nach den demokratischen Veränderungen im Jahr 2000 blieb Vergangenheitsbewältigung ein Streitpunkt; die Ermordung von Premierminister Zoran Dindić im Jahr 2003 wurde mit seiner Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Verbindung gebracht. Eine Erklärung des serbischen Parlaments von 2010 verurteilte das Verbrechen von Srebrenica, bezeichnete es aber nicht als Völkermord, was weder Friedensaktivist*innen noch Nationalist*innen zufriedenstellte. Die Ideologie eines „Großserbiens“ aus Serbien und der Republika Srpska wurde nun durch das Konzept der „serbischen Welt“ ersetzt, dem zufolge Serbien die Interessen aller Serb*innen in der Region vertritt.

Pro Peace rief eine Postkartenaktion ins Leben, um Menschen die Möglichkeit zu geben, eigene Worte an die Mütter von Srebrenica zu richten und ihre Anteilnahme zu äußern.

Ein Besuch von Präsident Vućić in Srebrenica zum 20. Jahrestag des Völkermords weckte Hoffnungen auf Versöhnung. Nachdem er jedoch angegriffen wurde, präsentierte sich Vućić als Opfer und polarisierte den öffentlichen Diskurs über Srebrenica weiter. Seitdem stellen serbische Medien den 9. Juli als Jahrestag des „versuchten Attentats“ auf Vućić dar, ohne den Völkermord zu erwähnen. 2024 wiesen Serbien und die Republika Serpska auf der „Allserbischen Versammlung“ erneut eine UN-Resolution als Versuch der kollektiven Beschuldigung der Serb*innen zurück.

Wie steht es 30 Jahre nach Srebrenica um den Frieden in der Region?

Im westlichen Balkan vergeht kaum ein Tag, an dem nicht an Massaker, Vertreibungen, niedergebrannte Dörfer und Massengräber erinnert wird. Momente für Wahrheitsfindung und Versöhnung werden aber oft von Erzählungen überschattet, die gesellschaftliche Gräben vertiefen. Schüler*innen lernen in getrennten Klassen aus unterschiedlichen Geschichtsbüchern. Entsprechend wenig wissen junge Menschen über die 1990er Jahre bzw. kennen nur die voreingenommenen Erzählungen ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe.

Pro Peace veranstaltete aus Solidarität eine Gedenkation vor dem Kölner Dom, bei der Koptücher hochgehalten wurden.

Das Erbe von Srebrenica prägt die Identität von Bosnien und Herzegowina, polarisiert die serbische Gesellschaft und schürt regionale Spannungen. Für Bosniak*innen in Bosnien und Herzegowina symbolisiert Srebrenica die eigene Widerstandsfähigkeit und das Versagen der internationalen Gemeinschaft, während Serbien an einer doppelten Darstellung festhält: Es erkennt einige Verantwortlichkeiten an und fördert gleichzeitig Leugnung und Revisionismus. Die Republika Srpska als dritte Entität innerhalb von Bosnien und Herzegowina teilt die serbische Sicht. Bosnien kämpft nach wie vor mit dem politischen Stillstand nach Dayton, ethnische Spaltungen und Sezessionsversuche der Führung der Republika Srpska verhindern eine effektive Regierungsarbeit. Serbien strebt indes nach wirtschaftlichem Fortschritt und regionalem Einfluss, erschwert aber seine EU-Bestrebungen durch Beziehungen zu Russland und China sowie eine anhaltende Nichtanerkennungskampagne und Stillstand im EU-Dialogprozess mit dem Kosovo. Serbien präsentiert sich als stabilisierende Kraft in der Region, bewirkt durch seinen Einfluss auf die Republika Srpska aber das Gegenteil.
Der moderne serbische Nationalismus sieht Serbien als Opfer westlicher und ausländischer Verschwörungen und die Anerkennung des Völkermords als Verurteilung aller Serb*innen. Wer den Völkermord öffentlich anerkennt, wird zur Zielscheibe staatlicher Propaganda.

Was Pro Peace heute tun kann

Durch langjährige Präsenz haben Pro Peace und seine rund 50 Partner in der Region Vertrauen in der Bevölkerung aufgebaut. Friedensarbeit und Vergangenheitsbewältigung werden trotzdem immer schwieriger. Nationalist*innen werfen Friedensorganisationen vor, ausländische Agenten zu sein. Vor allem in Serbien gelten Friedensaktive bis heute als Verräter*innen. Zudem schwindet die internationale Unterstützung für Vergangenheitsbewältigung.

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Pro Peace setzt dennoch weiter auf konkrete Friedensarbeit - beispielsweise im Organisationskommitee eines jährlichen Treffens von Friedensaktivist*innen aus Serbien am Vorabend des 11. Juli vor dem serbischen Präsidentschaftsgebäude, um gewaltfrei der Opfer des Völkermords von Srebrenica zu gedenken. Eine zum 20. Jahrestag in Belgrad von Pro Peace mitorganisierte Diskussionsveranstaltung wurde wie alle öffentlichen Veranstaltungen verboten, um ein großes, von vielen Friedensorganisationen geplantes Gedenken zu verhindern. Zum 25. Jahrestag gab Pro Peace das von einer Kampagne begleitete Buch „Nie wieder für niemand“ heraus, zusammen mit seiner Partnerorganisation Youth Initiative for Human Rights (YIHR) und der Unabhängigen Journalist*innen-Vereinigung der Vojvodina (IJAV). Ziele waren Interessenvertretung und Unterstützung der Nachkriegsgenerationen durch Bildung, Kunst und Aktivismus. Seminare und Studienreisen für Jugendliche und Journalist*innen schärften das Bewusstsein für den Völkermord, gleichzeitig wurden Künstler*innen dabei unterstützt, in Serbien ein Gedenken zu etablieren. Eine Online-Kampagne förderte die Empathie für die Opfer mit Beiträgen und viralen (Musik-)Videos. Um politischen Manipulationen entgegenzutreten, fanden öffentliche Vorträge zu verschiedenen Perspektiven auf Krieg, Erinnerung und Gerechtigkeit statt.

Vorbild der Gedenkaktion in Köln ist die Aktion „Mother’s Scarf“ der bosnischen Initiative „Mothers of Srebrenica“.

Ziel der meisten Projekte ist die Förderung von kritischem Denken und  Medienkompetenz, damit vor allem junge Menschen manipulierte Erzählungen entlarven können. Neben dem eigenen, regelmäßigen Magazin Balkan.Perspectives, das in mehreren Sprachen erscheint, kooperiert Pro Peace mit zahlreichen anderen Medien. So bekommen Überlebende den Raum, ihre Erfahrungen zu dokumentieren und ihr Erleben zu teilen.

Gedenken – 30 Jahre nach dem Völkermord

Am 9. und 10. Juli 2025 fand die von Pro Peace Partner BIRN mitorganisierte internationale und hochkarätig besuchte Konferenz "Bildung und Forschung zu Genozid - Unsere Geschichte, unser Versprechen" statt. Der Veranstaltungsort, das Srebrenica Memorial Center, liegt auf dem Gelände des damaligen UN-Bataillons Dutchbat im Dorf Potočari, ca.  sechs Kilometer nordwestlich von Srebrenica. Hier befindet sich auch der Friedhof für die identifizierten Opfer des Völkermords. Neben der inhaltlichen Arbeit war die Ausstellung "The Lives Behind the Fields of Death" ("Die Leben hinter den Feldern des Todes"), zu sehen, eröffnet von Munira Subašić, der Präsidentin der Mütter von Srebrenica. Die bedrückenden Exponate wie von der Flucht durch die Wälder abgenutzte Schuhe zeigten eindrücklich die persönliche Dimension des Genozids. Eine Dauerausstellung dokumentiert zudem das Versagen der internationalen Gemeinschaft. Zu sehen sind furchtbare Bilder der Opfer und diskriminierende Graffiti von niederländischen Soldaten über bosnische Mädchen und Frauen.

Tücher sind für viele Frauen in Bosnien und Herzegowina Teil der Alltagskleidung – über religiöse und ethnische Grenzen hinweg. Für die Mütter von Srebrenica sind sie Zeichen der Trauer und der Hoffnung.

Der Peace March mit mehreren Tausend Teilnehmenden hatte die etwa 100 km lange Strecke, auf der die bosnischen Jungen und Männer damals zu fliehen versucht hatten, in umgekehrter Richtung zu Fuß, mit dem Fahrrad oder motorisiert zurückgelegt. Teilweise vor Erschöpfung und Trauer weinend erreichten sie gegen Ende der Konferenz die Gedenkstätte. Bilder von serbischen Kriegsopfern säumten die Hauptstraße von der serbisch dominierten Stadt Bratunac bis nach Potočari. Am Mittag des 11. Juli war der gesamte Friedhof voller nach Osten gewandt in völliger Stille betender Menschen. Im Anschluss wurden sieben Opfer beerdigt, denn noch immer werden Knochen aus Massengräbern mittels DNA-Untersuchungen identifiziert.

Pro Peace und seine Partnerorganisationen vor Ort möchten weiterhin die Erinnerungsarbeit, Vergangenheitsbewältigung und den Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen voranbringen und unterstützen. Nur mit Aktivitäten wie den oben beschriebenen kann Revisionismus, Verherrlichung von Kriegsverbrechern und tiefen ethnischen Spaltungen entgegengewirkt werden. Ein nachhaltiger und gerechter Frieden wird nur möglich, wenn Verbrechen anerkannt und eingestanden werden und das fortlaufende Gegeneinander von Gruppen und Erzählungen nach 30 Jahre lang gepflegter Spaltung und Legendenbildung ein Ende findet.

Lea Heuser ist Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei Pro Peace.