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Nahost: Wege aus der Sprachlosigkeit

Wie das Willy-Brandt-Center in Jerusalem Verständigung möglich macht

Seit mehr als 20 Jahren setzt sich das Willy-Brandt-Center (WBC) im Rahmen eines gemeinsamen Programms des Zivilen Friedensdienstes mit Pro Peace für Austausch und Verständnis ein. Wie gelingt es, inmitten von Konflikten, Angst und politischer Unsicherheit Räume für Begegnung offen zu halten? Drei Mitarbeitende berichten aus ihrem Arbeitsalltag und zeigen, wie Dialog auch unter schwierigen Voraussetzungen möglich ist.
Der Eingang des Willy-Brandt-Zentrums in Jerusalem.
© Pro Peace

Ein geschützter Ort in unsicheren Zeiten

Seit über zwei Jahrzehnten ist das Willy-Brandt-Center (WBC) ein Ort des Dialogs, des Austauschs und gemeinsamen Lernens. Gegründet in der Aufbruchsstimmung nach den Oslo-Verträgen der 1990er Jahre, entstand es aus der Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft. Ziel war es, einen Raum zu schaffen, in dem junge Menschen aus Palästina, Israel und Deutschland offen, ehrlich – und auch kontrovers – über politische und gesellschaftliche Themen ins Gespräch kommen können.

Hinter diesem Ort steht ein Team, das eng zusammenarbeitet. Wir haben drei von ihnen getroffen: die lokale Finanzmitarbeiterin Ruba Qareen, Projektleiterin Moran Chen-Spitzer und Marlene Hahnenwald, eine internationale Friedensfachkraft, die für Kunst- und Kulturprojekte zuständig ist. Im Gespräch mit ihnen erhielten wir Einblicke in ihre Arbeit und in die Bedeutung eines Ortes, der mitten im konfliktreichen Jerusalem Hoffnung stiftet.

Dass das Zentrum im Stadtteil Abu Tor liegt, ist kein Zufall. Das Viertel, gelegen zwischen Ost- und Westjerusalem, spiegelt die tiefen politischen und gesellschaftlichen Spaltungen der Stadt wider. Zwar wird es oft als eines der wenigen Gebiete beschrieben, in denen jüdische und palästinensische Einwohner*innen Israels Seite an Seite leben – doch dieses Nebeneinander beruht auf der Verdrängung palästinensischer Bewohner*innen und ist von strukturellen Ungleichheiten geprägt. Ruba erinnert sich: „Unsere Existenz als Zentrum war von Anfang an herausfordernd. Wir wurden nicht immer willkommen geheißen – weder von der israelischen noch von der palästinensischen Seite. Aber wir sind unseren Weg auf unsere Weise gegangen. Über die Jahre haben wir Akzeptanz und Vertrauen in der Gemeinschaft aufgebaut.“

Auch heute – inmitten wachsender Spannungen, politischer Einschränkungen und der jüngsten Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts – bleibt das WBC ein geschützter Raum für Begegnung, Austausch und künstlerischen Ausdruck.

Marlene Hahnenwald

Ich denke, Hoffnung ist nichts, das einfach da ist. Sie entsteht nicht aus dem Nichts, nicht von allein. Hoffnung müssen wir aktiv aufbauen – Schritt für Schritt, manchmal gegen Widerstände. Sie fällt uns nicht in den Schoß, wir müssen sie gestalten, immer wieder neu.

Marlene Hahnenwald

Begegnung, die verändert

Ruba wuchs in einem Viertel im Osten Jerusalems auf – als Palästinenserin ohne israelische Staatsbürgerschaft, in einer von Gewalt geprägten Realität. Ihre Kindheit fiel in die Zeit der Ersten Intifada: „Meine frühesten Erinnerungen sind geprägt von Militärfahrzeugen, Tränengas, Steinen und Soldat*innen.“ Erst durch ihre Arbeit im WBC, die sie 2010 aufnahm, veränderte sich ihr Blick: „Ich begann zu erkennen, dass Israelis nicht nur Soldat*innen sind – ich fing an, sie als Menschen zu sehen.“

Ruba Quaraeen, Moran Chen-Spitzer und Marlene Hahnenwald auf der Dachterasse des Friedenshauses in Köln.

Auch Moran, jüdische Israelin und heutige Projektleiterin im WBC, erlebte einen tiefgreifenden Perspektivwechsel. Aufgewachsen im Süden Israels, blieb der Konflikt für sie lange abstrakt – etwas, das sich fernab des eigenen Lebens abspielte. Das änderte sich erst mit ihrem Umzug nach Jerusalem: "Als ich nach Jerusalem zog und an der Universität zu studieren begann, wurde es unmöglich, die Besatzung nicht zu sehen." Ein prägendes Erlebnis war ein Dialogseminar in Deutschland: „In Köln traf ich erstmals palästinensische Studierende aus Ramallah, Bethlehem und Jenin. Diese Begegnung hat mein Leben verändert.“ Seit über 20 Jahren arbeitet sie nun im Bereich des israelisch-palästinensischen Dialogs.

Hoffnung inmitten der Krise

Doch nach dem Angriff der Hamas im Oktober 2023 und dem anschließenden Krieg gegen Gaza musste sie sich die Frage stellen: Wie kann Begegnung gelingen, wenn politische Gewalt und Unsicherheit den Alltag dominieren?

„Aus Sicherheitsgründen mussten wir das Zentrum zunächst schließen“, berichtet Moran. „Ich erinnere mich noch gut an die ersten Wochen im November. Niemand kam, das Zentrum war leer. Ich fragte mich: Wie soll es jetzt weitergehen? Wer wird unter diesen Umständen überhaupt noch kommen?“ Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Menschen meldeten sich. Sie wollten zurückkommen und sich wieder begegnen.

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Ein besonders bewegender Moment für Moran war das Wiedersehen mit einer Gruppe palästinensischer Frauen, die trotz aller Hindernisse regelmäßig zum Zentrum kamen. „Sie hätten absagen können, doch sie wollten unbedingt persönlich hier sein – gemeinsam, vor Ort. Als ich sah, wie sie quer durch die Stadt reisten, nur um zusammenzukommen, berührte mich das sehr.“ Gerade in Jerusalem, wo politische Spannungen durch sichtbare Grenzen, Checkpoints und Zugangsbeschränkungen tagtäglich deutlich werden, ist eine solche bewusste Entscheidung für Begegnung alles andere als selbstverständlich.

Kunst als gemeinsame Sprache

Neben Bildungs- und Dialogarbeit ist Kunst ein zentrales Element im WBC – gerade in Zeiten, in denen persönliche Begegnungen immer schwieriger werden. „Ich glaube, wir brauchen Räume, wo Menschen einfach zusammenkommen können“, sagt Marlene. „Genau da liegt die Kraft von Kunst und Kultur. Sie ermöglicht es Menschen, einen Raum zu teilen, ohne den Druck, sich einig sein zu müssen – oder überhaupt Worte zu finden.“

Besonders deutlich zeigte sich das in dem Projekt No Words, das in Kooperation mit dem Kulturzentrum FeelBeit kurz nach dem 7. Oktober ins Leben gerufen wurde – in einer Zeit, in der Worte fehlten für das, was geschehen war. „Niemand wusste, wie man reagieren soll, wie man handeln soll. Die Menschen waren wie gelähmt“, erinnert sich Marlene. Und so kamen sie zusammen – nicht, um zu diskutieren oder Lösungen zu finden, sondern einfach, um gemeinsam Musik zu machen. Um da zu sein.

„Der Schmerz sitzt tief – auf beiden Seiten“, sagt sie. „Bevor echter Dialog möglich ist, braucht jede Seite Raum für Trauer und Verarbeitung. Ohne diesen Raum fällt es schwer, und manchmal ist es sogar unmöglich, offen für die Perspektive der anderen zu bleiben.“

Durch Kunst gelingt es, Menschen unterschiedlicher Hintergründe zusammenzubringen und Dialoge zu initiieren.

Trotz aller Herausforderungen bleibt das Team des WBC engagiert. Immer wieder stellen sie sich die Fragen: Ist unsere Arbeit noch relevant? Ist sie unter den aktuellen Umständen überhaupt noch möglich? Zweifel sind Teil des Alltags – und dennoch findet Dialog statt, auf unterschiedlichste Weise.

Sicherheit im Schatten der Öffentlichkeit

Das politische Klima erschwert die Arbeit zusätzlich. Unter zunehmend repressiven Bedingungen müssen viele Aktivitäten mit größter Vorsicht geplant werden. „Schon die bloße Bereitschaft zum Dialog zu zeigen, ist derzeit politisch und gesellschaftlich riskant“, sagt Ruba. Die israelische Regierung arbeite aktiv daran, genau solche Räume zu schließen. Das zeigt sich deutlich an neuen Gesetzesinitiativen: Geplant ist etwa eine Steuer von 80 Prozent auf ausländische Spenden – eine Maßnahme, die die finanzielle Grundlage vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen massiv bedrohen würde. Für Palästinenser*innen sind die Risiken noch größer: Ihre Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt, und oft ist es ihnen nicht einmal erlaubt, an Protesten teilzunehmen.

Die Angst ist real: vor Überwachung, vor Repression, vor Gewalt. Deshalb bewegt sich das Zentrum bewusst unter dem Radar. Veranstaltungen werden nicht öffentlich angekündigt, sondern über persönliche Netzwerke und private Kanäle wie WhatsApp- und E-Mail-Gruppen verbreitet. Das Ziel bleibt, einen sicheren Ort für Begegnung zu schaffen, auch im Schatten der Öffentlichkeit.

Sprache als Brücke

Ein Beispiel dafür ist das Sprachprogramm des WBC. Denn viele Palästinenser*innen in Ostjerusalem sprechen kaum Hebräisch, obwohl sie im Alltag ständig damit konfrontiert sind: in Behörden, Schulen, Krankenhäusern. Das hat weitreichende Folgen. „Wenn man die Sprache nicht spricht, versteht man seine Rechte nicht – und kann sich nicht wehren“, erklärt Moran.

Besonders betroffen sind Frauen. Denn während viele Männer im jüdischen Teil der Stadt arbeiten und dadurch besser Hebräisch lernen, bleiben viele Frauen im Viertel und kümmern sich um Kinder, Arzttermine oder Behördengänge – oft ohne ausreichende Sprachkenntnisse. Um dem entgegenzuwirken, bietet das Willy-Brandt-Center Hebräischkurse speziell für Frauen aus Ostjerusalem an.

Gleichzeitig organisiert das WBC seit zwei Jahren auch Arabischkurse für jüdische Israelis, denn Sprache ist mehr als nur ein Kommunikationsmittel. Wie Moran betont, ist sie „eine Brücke, die Vorurteile abbaut und es ermöglicht, die andere Seite als Mensch wahrzunehmen.“

Sprachbarrieren abzubauen ist eines der Hauptanliegen des Willy-Brandt-Zentrums.

Und doch reicht Sprache allein nicht aus. Moran ist überzeugt, dass eine gemeinsame Gesellschaft nur auf Grundlage von Gleichheit entstehen kann – auch in rechtlicher Hinsicht. In Jerusalem ist davon wenig zu spüren: Während israelische Staatsbürger*innen volle Rechte haben, leben viele palästinensische Bewohner*innen Ostjerusalems, das von Israel illegal annektiert wurde, mit einem reinen Aufenthaltsstatus – ohne gleiche Rechte.

Ein Zeichen setzen – leise, aber kraftvoll

Gerade in dieser schwierigen Realität zeigt sich, wie wichtig Orte wie das Willy-Brandt-Center sind. Sie schaffen Räume, in denen Menschen nicht nur die Sprache der anderen lernen, sondern sich auch wirklich auf Augenhöhe begegnen – trotz aller Unterschiede und Ungleichheiten. Es sind kleine, aber bedeutsame Schritte hin zu einem größeren Ziel.

„Manchmal, wenn ich abends nach einer Veranstaltung oder Aktivität unser Zentrum verlasse, spüre ich einen vorsichtigen Optimismus. Die Vision Jerusalems als eine geteilte Stadt – in der Palästinenser*innen, Israelis, Deutsche und verschiedene Gemeinschaften miteinander leben – beginnt unter unserem Dach bereits Wirklichkeit zu werden,“ sagt Moran.

Diese Vision ist es, die sie und ihre Kolleg*innen Tag für Tag antreibt. Trotz aller Schwierigkeiten. Denn genau darin liegt die Stärke des Willy-Brandt-Centers. Es schafft Raum für Stimmen, die oft überhört werden. Es hört zu, auch wenn andere wegschauen. Und es beweist, dass Dialog nicht nur möglich ist, sondern unverzichtbar.

„Manche sagen, was wir tun, sei nur symbolisch“, sagt Marlene. „Aber ich glaube fest daran, dass es real ist. Wir schaffen eine Gegenrealität zu dem, was draußen geschieht. Und das ist kraftvoll. Es ist der einzige Weg nach vorn.“

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