Mehr als nur ein Streit über Nummernschilder

Online-Gespräch zu den aktuellen Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo

Grenzblockaden, Proteste, Explosionen: Ende letzten Jahres verschärften sich die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo. Serbiens Präsident Vučić rief das Militär zu erhöhter Kampfbereitschaft auf. Die Befürchtungen der Menschen in der Region waren groß. In einer englischsprachigen Online-Veranstaltung sprachen die Pro Peace-Landesdirektor*innen der beiden Länder über die Ursachen der Eskalation und über die Auswirkungen auf die Friedensarbeit von Pro Peace.
Kosovo, Serbien
© Foto links: © Vegim Zhitija, CC BY-SA 2.0, via Flickr; Foto rechts:© ZlatanJovanovic, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Rund 80 Zuschauer*innen schalteten Anfang des Jahres bei dem Online-Gespräch über die aktuelle Situation in Serbien und dem Kosovo ein. Das Interesse war groß, schließlich hatten die jüngsten Ereignisse auch in den deutschen Medien viel Aufmerksamkeit bekommen. Doch was genau war passiert?  Antworten auf diese Frage gab Nehari Sharri, Landesdirektor von Pro Peace im Kosovo. Er erläuterte zu Beginn der Online-Veranstaltung, was zu der Eskalation geführt hatte.

Rückblick: Wie kam es zur aktuellen Situation?

Im Zentrum stehe die Problematik um Grenzübertritte, so Sharri. Der Streit darüber reiche lange zurück: Seit Ende des Krieges im Jahr 1999 wurde immer wieder darüber verhandelt, zu welchen Bedingungen die Menschen die Grenze zwischen Serbien und dem Kosovo passieren durften. Die dafür notwendigen Papiere und Autokennzeichen änderten sich im Laufe der Jahre mehrfach. Die EU bemühte sich um eine Lösung in dem Streit und vermittelte schließlich einen Kompromiss: Demnach durften Bürger*innen aus dem Kosovo mit ihren kosovarischen Autokennzeichen nach Serbien einreisen, mussten dabei allerdings mit einem Sticker das Staatswappen und den Schriftzug „Republik Kosovo“ verdecken. Bürger*innen aus Serbien konnten währenddessen ohne weitere Auflagen in den Kosovo einreisen, weil die dortige Regierung ihren Teil des Verhandlungsergebnisses noch nicht umgesetzt hatte.

Das änderte sich im Juni 2022: Die kosovarische Regierung setzte nun weitere Bestandteile der Vereinbarung um. Sie forderte die serbische Minderheit im Kosovo dazu auf, ihre serbischen Nummernschilder bis August in die kosovarischen Kennzeichen umzuändern.

Diese Entscheidung löste große Unruhen im Kosovo aus: Es kam zu Protesten und Straßenblockaden, woraufhin die Regierung die Umsetzung der Beschlüsse verschob. In der Zwischenzeit brachten Gespräche zwischen Serbien und dem Kosovo zwar Erleichterungen bei den Ein- und Ausreisebestimmungen, doch im Streit um die Nummernschilder gab es keine Einigung.

Die kosovarische Polizei begann daraufhin, Einwohner*innen mit serbischen Nummernschildern zu benachrichtigen. Sie wurden aufgefordert, ihr Nummernschild umzumelden. Geschah dies nicht, drohten Geldstrafen. Der Polizeidirektor im Nordkosovo weigerte sich, die Befehle auszuführen, und wurde daher entlassen. In den nächsten Monaten spitzte sich die Lage zu. Weitere serbische Polizist*innen, Politiker*innen, Bürgermeister*innen und Anwält*innen traten zurück.

Im Dezember wurden schließlich Spezialeinsatzkräfte an zwei Grenzübergänge im Norden geschickt, für die es keine zuständige Polizei mehr gab. Zu diesem Zeitpunkt stand auch die Wahl neuer Kommunalvertreter*innen im Norden an. Mitglieder der serbischen Minderheit, die die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennen, protestierten, zerstörten Wahlbüros und blockierten Grenzübergänge. Serbiens Präsident Vučić appellierte an das Militär, sich einsatzbereit zu machen.

Auswirkung auf die Zivilgesellschaft

Im Online-Gespräch schilderte Natasa Govedarica, Landesdirektorin von Pro Peace in Serbien, wie verstörend und beunruhigend diese Kette von Ereignissen und insbesondere die Äußerungen Vučićs auf viele Menschen in der Region gewirkt hätten. Es sei schon erstaunlich, dass eine vermeintlich unbedeutende und bürokratische Angelegenheit eine derartige Eskalation auslösen könne, so Govedarica. Dies zeige, dass der Streit um die Nummernschilder nur ein Symptom und  Ausdruck viel weitreichenderer Probleme sei: „Es geht eigentlich gar nicht um den Auslöser, sondern um die Ursachen des Konflikts, die tief verwurzelt sind“, so Govedarica. Dass nach jahrelangen Verhandlungen die vermeintliche Lösung sei, Sticker über Staatswappen zu kleben, zeuge ihrer Ansicht nach von fehlendem Willen, den Konflikt beizulegen.

Die Zuschauer*innen des Online-Gesprächs verfolgten diese Erläuterungen von Nehari Sharri und Natasa Govedarica mit großem Interesse und stellten viele Fragen im Chat. Eine Teilnehmerin fragte, welche Rolle die Medien in dem Konflikt spielten. Nehari Sharri stellte hierzu klar, dass selbst innerhalb eines Landes die Rolle der Medien differenziert betrachtet werden müsse. Interessant seien vor allem die teils enormen Unterschiede in der serbischen und kosovarischen Berichterstattung. Es fehle an neutralen Perspektiven, wodurch schwierig zu beurteilen sei, welche Version stimme. Dennoch – so seine Einschätzung – sei die Berichterstattung dieses Mal etwas vorsichtiger und zurückhaltender ausgefallen als bei früheren Krisen.

Zusammenarbeit trotz Spannungen möglich

Trotz der aktuellen Spannungen leisten die Pro Peace-Teams in beiden Ländern unermüdlich Friedensarbeit. Moderator Christoph Bongard fragte die Friedensfachkräfte, an welchen Projekten sie arbeiten und welche Themen sie beschäftigen.

In Serbien arbeitet Pro Peace-Team sehr eng mit Medienschaffenden und Künstler*innen zusammen, erläuterte Natasa Govedarica. „Die Sprache der Kunst kommuniziert oft effizienter als akademische Arbeit“, stellte sie fest. Denn künstlerische Arbeit zeige Gesichter und rufe Emotionen hervor. Dabei sind sogar grenzüberschreitende Kooperationen entstanden: Zum Beispiel organisieren die Pro Peace-Teams in Serbien und im Kosovo seit mittlerweile neun Jahren ein gemeinsames Festival. Hierbei kommen Kulturschaffende, Aktivist*innen und Künstler*innen aus dem Kosovo in die serbische Hauptstadt Belgrad, um die Kultur ihrer Heimat den serbischen Nachbar*innen nahezubringen. Geplant sind auch ähnliche Veranstaltungen im Kosovo.

Mithilfe solcher Veranstaltungen erreiche man auch Menschen außerhalb der Friedens- und Menschenrechtsarbeit, sagte Natasa Govedarica. Diese grenzüberschreitende Arbeit funktioniere nur mithilfe der Kontakte und Ansprechpartner*innen auf Seiten des Kosovo, so Govedarica. Allerdings habe es in der Vergangenheit gelegentlich Schwierigkeiten bei der Einreise kosovarischer Gäste nach Serbien gegeben. „Eine Realität, in der die Grenzpolizei bestimmen kann, welche Inhalte gezeigt werden dürfen, ist nicht schön“, gab die Friedensfachkraft zu. Das Wichtigste sei ihrer Meinung nach aber, dass das Festival überhaupt stattfinden könne – allen Schwierigkeiten und Hindernissen zum Trotz.

Aus Zahlen wurden Namen und Gesichter

Nehari Sharri berichtete von der Friedensarbeit im Kosovo. Ein zentrales Thema, zu dem Pro Peace hier arbeitet, sind die Schicksale von vermissten Personen. Um die 160.000 Menschen gelten seit dem Krieg als vermisst. Nehari Sharri kritisierte, dass diese Schicksale in der politischen Debatte häufig bloß als Zahlen dargestellt würden. Das Pro Peace-Team hingegen dokumentiert Geschichten von Familienangehörigen von Vermissten. „Wir wollten aus diesen Zahlen, die Politiker*innen nutzen, Namen, Gesichter und Emotionen machen“, berichtete der Landesdirektor von Pro Peace im Kosovo.

Es müsse gezeigt werden, dass – entgegen des Bildes, das kosovarische Politiker*innen oft schafften – Menschen verschiedener ethnischer Hintergründe vermisst werden, so Sharri. Dazu hat Pro Peace im Kosovo ein Buch herausgegeben, das sowohl Geschichten albanischer als auch serbischer Vermisster erzählt. Aus dem Buch ist auch eine Ausstellung entstanden, die im kosovarischen Parlament gezeigt wurde. Diese beinhaltete eine klare Botschaft an die Politik: Es liegt in ihrer Zuständigkeit, das Problem anzugehen. Die emotionalen Schicksale wurden auch verfilmt und im kosovarischen Fernsehen gezeigt. Durch Nutzung verschiedenster Medien und Formate erreiche das Projekt eine breite Wirkung in der Gesellschaft, erklärte Sharri.

Wie geht es weiter?

Doch welche Perspektiven sehen die langjährigen Friedensfachkräfte für die Zukunft? Wie schätzen sie die politische Kompromissbereitschaft der Länder ein? Das sind Fragen, die auch die Zuschauer*innen des Online-Gesprächs umtreiben. Natasa Govedarica hofft, dass die Politiker*innen beider Länder bald keine andere Möglichkeit mehr haben werden, als sich zu einigen. Aktuell besuchen viele Politiker*innen aus der EU und auch der USA die Region. Die Friedenfachkraft sieht in diesem internationalen Druck eine Chance, endlich nachhaltigen Fortschritt im Einigungsprozess zu erreichen. Auch Nehari Sharri merkte an, dass die aktuelle Situation in Anbetracht des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von der Weltgemeinschaft ernster denn je genommen werde.

„Die Menschen in der Region kennen es nicht anders. Sie sind es seit Jahren gewohnt, nebeneinander statt miteinander zu leben“, sagte Govedarica. Doch vielleicht kann sich das 2023 – ausgelöst durch den geopolitischen Druck – endlich ändern, hoffen die beiden langjährigen Friedensfachkräfte.