Mit einem Wort "Verzweiflung"

Eine Einschätzung der Lage in Syrien und der Rollen internationaler Akteure und der Zivilgesellschaft in der Syrienkrise

Zedoun Al-Zoubi – ein syrischer Aktivist – stellt im Interview mit Oliver Knabe konkrete Maßnahmen zur Überwindung der Gewalt und des Konfliktes in Syrien dar und blickt kritisch auf die Rolle internationaler Akteure und insbesondere auf die Syrienpolitik Deutschlands.
Mutter hält Kind vor Zelt für Flüchtlinge
© Mark Garten

München, 13.02.16. Die Syrienkrise ist heute Thema auf dem Panel des forumZFD, der Ebert-Stiftung und der Gruppe Münchner Sicherheitskonferenz verändern auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2016. Unser Fokus: Die Zivilgesellschaft zwischen den Fronten. Es sprechen der syrische Aktivist Zedoun Al-Zoubi, Bassma Kodmani, Mitglied der syrischen Oppositionsdelegation, Jean-Marie Guéhenno, Präsident der International Crisis Group und der SPD-Außenpolitiker Niels Annen mit dem Direktor des Friedensforschungsinstituts SIPRI Dan Smith. Zedoun Al-Zoubi benennt im Interview mit forumZFD-Geschäftsführer Oliver Knabe seine Erwartungen an die internationalen Akteure auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

In Deutschland sorgen der Bundeswehreinsatz gegen den sogenannten Islamischen Staat und die Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien für große Kontroversen. Die öffentliche Diskussion dreht sich um unsere Sicherheit und unsere Probleme. Diejenigen, die am meisten unter dem Krieg in Syrien zu leiden haben, sind jedoch jene, die immer noch in Syrien sind.
Oliver Knabe traf Zedoun Al-Zoubi am Berliner Flughafen kurz vor einer erneuten Reise in die Region und sprach mit ihm über die Situation der Menschen in Syrien, Einschätzungen zur deutschen Syrienpolitik und Schritte zum Schutz der Menschen und einer Friedenslösung für das Land.

Zedoun Al-Zoubi ist Geschäftsführer der Union Syrischer Medizinischer Hilfsorganisationen. Er gibt regelmäßig in internationalen Medien Einschätzungen zur humanitären Lage in Syrien und appelliert an die internationale Gemeinschaft, den Krieg endlich zu beenden.

Oliver Knabe: Sie arbeiten für die größte humanitäre Organisation in Syrien. Beschreiben Sie uns die Lage der Menschen dort nach so vielen Kriegsjahren.

Zedoun Al-Zoubi: Wenn es ein Wort trifft, dann ist es „Verzweiflung“. Die Menschen in Syrien sind verzweifelt, hilflos, hoffnungslos und die Entscheidung, nach Europa zu fliehen, wird alles andere als leichtfertig getroffen. Die Menschen dort haben, seit nunmehr anderthalb Jahren, das Gefühl, dass dieser Konflikt nie enden wird, und die anfänglichen Träume von Demokratie und Gleichheit sind verflogen. Es herrscht ein äußerst gnadenloser und blutiger Bürgerkrieg, vielleicht einer der schlimmsten Bürgerkriege der Geschichte.
Viele haben aufgrund der Bombenangriffe Angst, ihre Kinder zur Schule zu schicken. In den ISIS-kontrollierten Gebieten weigern sich die Menschen, ihre Kinder in Schulen zu schicken, in denen der Dschihad gelehrt wird. Die medizinische Situation ist schlimmer, als man sich es vorstellen kann. Das Gesundheits- als auch das Bildungssystem in Syrien sind komplett zusammengebrochen.

Wird diese Situation in Europa angemessen wahrgenommen?

Schon seit Jahren versuche ich die Augen deutscher und westlicher Diplomaten dafür zu öffnen, dass der Syrienkonflikt auch für sie zum Problem werden wird, aber leider wollte mir anfangs niemand glauben. Heute sehen wir das Ergebnis: In etwa sieben bis vierzehn Tagen gelangt ein Syrer von Damaskus nach Berlin. Und plötzlich muss sich Deutschland – vor allem Deutschland – hunderttausenden Flüchtlingen annehmen. Hierfür gibt es vor allem zwei Ursachen: Die Fassbomben, das heißt die Bombardierungen, und der Mangel an Infrastruktur. Die Mittelschicht will Bildung für ihre Kinder, aber es gibt keine Schulen. Die Menschen sagen sich: „Wenn ich schon mein eigenes Leben, meine Zukunft verloren habe, dann sollen wenigstens meine Kinder eine haben.“
In meinen Gesprächen mit westlichen Amtsträgern warnte ich immer davor, die Krise als Europäer von der falschen Seite aus anzugehen. Anstatt nur die Symptome zu behandeln, sollten sie sich den Ursachen widmen. Hilft man den Syrern, in ihrer Heimat bleiben zu können, werden sie das Land nicht verlassen müssen.

Was wäre dafür zu tun?

Wenn man keine Hilfen zum Aufbau der medizinischen Versorgung und von Bildungseinrichtungen innerhalb Syriens leistet, werden die Menschen diese Grundbedürfnisse irgendwo anders stillen wollen. Anstatt zum Beispiel einem Arzt in Syrien eintausend Euro Gehalt zu zahlen, werden die Gelder für hunderte von Menschen ausgegeben, die diesem Arzt nach Europa folgen, weil sie in Syrien nicht versorgt werden. Dieses Vorgehen ist ineffizient und ineffektiv und ich verstehe nicht, warum manche Politiker nicht einsehen wollen, dass Syrien eben nicht ganz weit weg ist von Europa.

Die deutsche Bundesregierung hat letzten November beschlossen, sich mit Waffen und Soldaten am Militärbündnis gegen den Islamischen Staat zu beteiligen mit der Begründung, es gäbe keine Alternative. Wie bewerten Sie das?

Das war eine sehr falsche Entscheidung und keine gute Reaktion. Natürlich kann Terrorismus nicht von der Luft aus, nicht mit Militäreinsätzen bekämpft werden. Und es ist heutzutage für Extremisten weltweit einfach, sich über Facebook mit anderen kurzzuschließen, um aus der Ferne Gehirnwäsche zu betreiben und Leute zu überzeugen, Untaten jeglicher Dimension zu begehen. Das passiert Tag für Tag.

Zedoun Al-Zoubi (rechts) und sein Kollege Tawfik Chamaa (links) von der Union Syrischer Medizinischer Hilfsorganisationen trugen im Rahmen der Genf-Konsultationen im Juni 2015 dem stellvertretenden UN-Sonderbeauftragten für Syrien Ramzy Ezzeldin Ramzy ihre Anliegen vor.

Was erwarten Sie stattdessen von der Bundesregierung?

Wir wissen die Friedensbemühungen der Deutschen im Nahen Osten sehr zu schätzen und wir haben ähnliche Maßnahmen auch in Syrien erwartet. Ich habe Außenminister Steinmeier in einem Gespräch daran erinnert, dass Deutschland unter allen westlichen Ländern die besten Beziehungen zu Russland unterhält. Deutschland hat außerdem noch gute Beziehungen zu den Iranern und auch zu den Türken, womit sich Deutschland gut als Vermittler eignen würde. Deutschland sollte sich hier nicht nur im Interesse der Syrer, sondern vor allem auch aus eigenem Interesse einsetzen. Die Menschen würden nicht nach Deutschland kommen. Sobald der Krieg in Syrien endet, werden sie mit ihren Familien zurück in ihr Land kehren. Mit Angriffen auf IS-Hochburgen wie Rakka erreicht man vielleicht sogar das Gegenteil des Gewollten und anstatt vernichtet zu werden, erhält der Islamische Staat noch weiteren Zulauf.

Was wäre die Alternative?

Bildung. Ich sage das nicht aus einer romantischen Überzeugung heraus. Wer den Terrorismus in Syrien und der restlichen Welt bekämpfen will, muss den Menschen Zugang zu Bildung verschaffen. So werden sie nicht zur Munition. Eine Schule in Syrien kostet Deutschland jährlich maximal dreißig- bis vierzigtausend Dollar. Ein Luftangriff kostet zehnmal so viel. Mit der Eröffnung einer Schule in Syrien werden zweihundert Kinder davor bewahrt, sich der Miliz anzuschließen. Bombardierungen legen den Terrorapparat nicht lahm und sind also – ich wiederhole mich hier – ineffektiv und ineffizient.

Sie sprechen auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit Vertretern der internationalen Politik und der Vereinten Nationen. Welche Ratschläge haben Sie für die Vermittler?

Machen Sie kleine Schritte, statt gleich den großen Wurf anzustreben. In Syrien werden große Lösungsansätze scheitern. Der Frieden muss Schritt für Schritt gefördert werden. Man muss nicht vor Ort sein, wenn es endlich soweit ist und Frieden in Syrien einkehrt. Aber man kann Saatkörner für den Frieden sähen.

Wie könnte das konkret aussehen?

Eine Lösung könnten örtliche Waffenruhen sein, Schritt für Schritt von Süden nach Norden. Eine zweite Möglichkeit wäre Frieden durch Infrastruktur. Zum Beispiel herrscht in einigen Gebieten Frieden, weil die Regierung Strom bereitstellt und die Opposition das Wasser. Wasser im Austausch für Strom, das bedeutet ein Abkommen und keine Angriffe. Das hat etwas gebracht.

Welche Rolle sollte die Zivilgesellschaft bei den Verhandlungen und der Friedenskonsolidierung spielen?

Aktivistinnen und Aktivisten der Zivilgesellschaft wissen aufgrund ihrer Nähe zur syrischen Gesellschaft, was die Menschen wollen, denn sie sorgen für Infrastruktur, Bildung und eine medizinische Versorgung und veranstalten gemeinsam mit den Bürgern Workshops. Die Zivilgesellschaft ist natürlich nicht repräsentativ – was sie aber sagt, ist repräsentativer als die Worte der Politiker, da sie stärker im Kontakt zu den Menschen steht.

Meinen Sie also, die Zivilgesellschaft sollte in die Verhandlungen einbezogen werden?

Genau dafür setze ich mich ein. Wenn die Zivilgesellschaft aus den Verhandlungen ausgeschlossen wird, sind diese zum Scheitern verurteilt.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Menschenrechtsaktivist wurde mit drei Kollegen entführt. Wer wird sich in den Verhandlungen für ihre Freilassung einsetzen? Das Regime? Nein, denn sie gehören der Opposition an. Ohne die Zivilgesellschaft wird dies nicht passieren. Außerdem sind Politiker böswillig. Sie haben weder das nötige Wissen noch das Interesse, sich humanitären Fragen zu widmen. Die Zivilgesellschaft verfügt über das gesamte Wissen und hat beispielsweise ein größeres Interesse dann, Krankenhäuser zu schützen. Politiker werden durch zerbombte Krankenhäuser nicht geschädigt. Sie werden nicht täglich, nicht stündlich davon tangiert. Und nicht zuletzt werden wir, die Zivilgesellschaft, Zeugen der Verhandlungen sein und damit die Augen und Ohren der Menschen da draußen.

Viele Kinder und Jugendliche in Syrien und in den Flüchtlingslagern in den Anrainerstaaten können keine Schule besuchen. Diese syrischen Kinder in Bar Elias im Libanon haben zumindest eine provisorische Schule.

Das forumZFD hat sich bislang nur punktuell für eine gewaltlose Konflikttransformation in Syrien einsetzen können. Wir haben Syrer in unserer Akademie geschult und unterhalten Programme mit syrischen Flüchtlingen im Libanon. Was erwartet die syrische Zivilgesellschaft von internationalen Organisationen wie dem forumZFD?

Zum einen können Sie den Konflikt von einer professionellen, nicht-emotionalen Sichtweise aus betrachten. Syrerinnen und Syrer hingegen tun sich mit einer neutralen Herangehensweise schwer. Zum anderen haben Sie das nötige Wissen und ein Interesse an einer Lösung, weil Deutschland auch indirekt vom Konflikt betroffen ist. Ausgehend von diesen drei Gesichtspunkten können und sollen Sie vor allem das Know-how bereitstellen. Aktuell wollen wir UN-Sonderbeauftragten Staffan de Mistura davon überzeugen, sich für unsere Verhandlungsteilnahme einzusetzen. Aber zugegebenermaßen haben wir keine ausreichende Kompetenz in der Verhandlungsführung. Wir sind also auf Unterstützung angewiesen. Außerdem wäre es wichtig, dass Sie sich für uns einsetzen, indem Sie zum Beispiel in Briefen an alle wichtigen Akteure in den USA, in Russland und Deutschland und innerhalb der Vereinten Nationen für die Partizipation der Zivilgesellschaft plädieren. Ohne eine Beteiligung der Zivilgesellschaft kann es keine Lösung für Syrien geben. Punkt!

Das sehe ich ein.

Humanitäre Helferinnen und Helfer können meiner Meinung eine Rolle in der Friedensförderung spielen, da man nicht viel gegen Menschen haben kann, die einen mit Essen, Bildung, Medikamenten und dergleichen versorgen. Und dies wird die Parteien zusammenführen und Kanäle öffnen. Ich spreche hier nicht nur von den zentralen Akteuren, ich spreche hier auch von der Gesellschaft. Die syrische Gesellschaft ist zerstört und ist von lokaler Diskriminierung, Extremismus und Zweifel geprägt. Jeder misstraut jedem und niemand will sich auf den anderen einlassen. Sie müssen uns also helfen, Mitarbeitende humanitärer Einrichtungen zu einer Plattform für Gespräche und Vertrauensbildung zu machen.

Sie sagten zu Beginn, dass die Menschen in Syrien verzweifelt seien. Wie erhalten Sie persönlich Ihre Hoffnung aufrecht? Was treibt Sie an?

Ich weiß es wirklich nicht. Ich erwarte nicht zu viel. Ich hoffe nicht zu viel. Ich weiß, dass ich eine Sache tun kann und mache sie dann. Das soll aber nicht heißen, dass ich nicht erschöpft bin oder dass ich nicht unter einem enormen Druck stehe. Das soll nicht bedeuten, dass ich nicht täglich weine. Tag für Tag aufs Neue steht man unter Druck, wenn man die Not auf der einen und auf der anderen Seite seine eigenen Möglichkeiten und die Kluft dazwischen sieht. Gestern mussten wir Madaya retten, eine Stadt westlich vor Damaskus. Den Bewohnern droht nun nach der Belagerung der Hungertod. Wir mussten also dringend Geldmittel beschaffen. Zeit für eine Veranstaltung war keine, also haben wir in unseren eigenen Reihen gesammelt. Wir haben insgesamt 10.000 $ zusammenbekommen, weil manche Mitarbeitenden bis zur Hälfte ihres Gehalts gespendet haben.
Ich arbeite an einem Projekt, das sicherlich irgendwann einmal von Erfolg gekrönt sein wird. Nur diesen Tag werde ich selbst nicht mehr erleben, da er sehr weit entfernt in der Zukunft liegt. Ich arbeite also für ein Projekt, dessen Ergebnis ich niemals mitbekommen werde, und damit muss ich mich abfinden.

Vielen Dank für das Gespräch.