Ukraine: Zwischen Schulglocke und Luftalarm

Friedensbildung an ukrainischen Schulen in Zeiten des Krieges

28 verschiedene Schulen in der Ukraine nehmen am „Peaceful School“-Programm teil, um für einen sicheren Alltag und konstruktiven Umgang mit Konflikten zu sorgen. Doch der Alltag des Krieges holt Schüler*innen und Lehrkräfte immer wieder ein. Die Kinder und Jugendlichen in der Ukraine erleben bereits das dritte Schuljahr seit Beginn der russischen Invasion.
Zwei Schülerinnen stehen Rücken an Rücken und stützen sich gegenseitig während einer Einheit des "Peaceful School Project"
© Daniela Prugger

Drei zermürbende Jahre Krieg

An den Straßenrändern im Oblast Tschernihiw patrouillieren mobile Flugabwehreinheiten der ukrainischen Armee, die russische Drohnen abgeschossen haben. Die Drohnen steuerten über dem Oblast Tschernihiw auf die Hauptstadt zu, etwa zwei Autostunden südlich von der Ortschaft Ripky. In den Nächten vor dem Interview hat Schulpsychologin Inna Kajuk deshalb kaum geschlafen. Russische Luftangriffe hielten die Bevölkerung wach. „Wir sind alle erschöpft“, sagt die 37-Jährige. Sie sitzt in einem Büro im Erdgeschoss der Gesamtschule, an der sie seit Jahren arbeitet. Doch Kajuk meint nicht nur die vergangenen Nächte, wenn sie von Erschöpfung spricht, sondern Jahre. Als die russischen Truppen im Februar 2022 in die Ukraine einfielen gehörte Ripky im Oblast Tschernihiw zu den ersten Orten, die mehrere Wochen lang unter Besatzung gerieten. „Es war schrecklich“, erinnert sich Kajuk. „Wir konnten unsere Familien und Freunde nicht verständigen, denn die Russen standen überall mit Panzern und Waffen.“

Für die Lehrkräfte und Psycholog*innen bedeute der Krieg viel mehr Arbeit als früher. Die Schule wird von 483 Kindern und Jugendlichen besucht, die mit den Herausforderungen des Aufwachsens, den Gefahren des Krieges, den damit verbundenen Ängsten und der ständigen Unsicherheit umgehen müssen. Die Jüngsten sind erst sechs Jahre alt. „Alle Probleme, die es bereits gab, wurden durch den Krieg verstärkt“, sagt Kajuk. Mobbing und Ausgrenzung gibt es immer noch, aber dazu kommen traumatisierte Kinder aus den stark umkämpften Gebieten wie Luhansk und Donezk, die auf Lärm und Sirenen stark reagieren. Insgesamt seien alle Schüler*innen oft aggressiv und impulsiv, oder ziehen sich zurück.

Mit gezielten Methoden lernen die Schüler*innen, sich in Angstsituationen zu beruhigen.

„Vor einem Jahr hatten wir an der Schule ein 15-jähriges Mädchen, dessen Vater an der Front gefallen ist. Danach habe ich sie an der Schule gesehen – sie hat gelächelt“, erinnert sich Kajuk. „Ich habe das Mädchen gefragt, wie es ihr geht und warum sie lächelt. Sie sagte zu mir: Ich stelle mir vor, dass es mir gut geht und versuche zu lächeln, denn ich weiß nicht, wie ich ohne meinen Vater leben soll. Erst dann begann sie zu weinen und hörte nicht mehr auf.“

Mediation und Konfliktbearbeitung in der Schule

Zusammen mit fünf weiteren Lehrerinnen implementiert Kajuk das „Peaceful School“-Modell, das seit 2019 in Zusammenarbeit mit Pro Peace und anderen Partnern gewaltfreie Konfliktbearbeitungsstrategien an mittlerweile 28 Schulen fördert. Durch Gespräche und Mediation sollen Konflikte zwischen den Schüler*innen geschlichtet, für Empathie und ein sicheres Umfeld gesorgt werden. „Nur wenn wir unsere Gefühle verstehen, können wir unsere Reaktionen und unser Verhalten nachvollziehen“, sagt Kajuk und erzählt von ihrem viereinhalbjährigen Sohn. „Wenn er Sirenen hört, dann wird er wütend und schreit: „warum schon wieder“.“ Es sei wichtig, den Kindern auch den Platz für diese Wut zu geben.

Das Konzept der „Peaceful School“ ist heute wichtiger denn je, sagt Schulpsychologin Olena Pintschuk. „Gerade jetzt brauchen die Kinder und Jugendlichen mehr Vertrauen zu den Lehrer*innen, denn die Verwandten schauen daheim die schrecklichen Nachrichten, oder sind selbst im Krieg, und all das wirkt sich auf die Kinder aus.“ Ratschläge, Freundschaften und manchmal eine Umarmung – darauf komme es an, so die 45-Jährige. Drei Jahre Krieg haben überall und an Jedem ihre Spuren hinterlassen.

Schulpsychologin Olena Pintschuk hält das Konzept der „Peaceful School“ für wichtiger denn je.

Zeichen des Krieges überall

An den Häusern neben der Schule fährt an diesem Morgen langsam ein Auto der Armee vorbei, hält immer wieder an, damit einer der Soldaten klingeln und Einberufungsbescheide austeilen kann. An der Eingangstür der Schule erinnern Fotos an Alumni, die in den Kämpfen gefallen sind. Im Gebäude gibt es aufgrund der gezielten russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur keinen Strom. Nur der Schutzkeller wurde mittlerweile sorgfältig saniert und ausgestattet mit Schulbänken und Sesseln, einer kleinen Kantine, einem IT-Raum, und einem Stromgenerator.

„Die Besatzung war die schlimmste Zeit für uns“, sagt Kajuk. „Mittlerweile sind wir alle sehr erschöpft, und jeder von uns kennt jemanden, der in der Armee ist.“ Als Ripky von der Außenwelt abgeschnitten war, mussten die Bewohner*innen in belarussische Dörfer fahren, etwa 25 Kilometer entfernt, um Lebensmittel zu kaufen. Der Unterricht fand, wie schon in der Corona-Pandemie, online statt, bis die Schule nach der Renovierung des Schutzkellers schrittweise wieder öffnen konnte.  „Nach der Okkupation waren die Kinder nicht mehr dieselben“, sagt Kajuk. Manche hatten Angst, das Haus zu verlassen, die Isolation hat ihnen zugesetzt. „Sie brauchten unsere Unterstützung, weil sie Panikattacken oder Angst vor anderen Kindern hatten, vor Menschenmengen.“

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Kinder helfen einander

Doch mindestens genauso wichtig wie die professionelle Unterstützung durch Schulpsycholog*innen ist der Peer-to-Peer-Ansatz, den „Peaceful School“ ebenfalls verfolgt. Schüler*innen konnten sich freiwillig melden und selbst zu Mediator*innen werden. Einer von ihnen ist Danilo Baschlak. „Ich merke, dass es öfter Streit gibt, dass die Anderen lauter sind als sonst, dass geflucht, geschubst und hinter dem Rücken geredet wird“, sagt der 13-Jährige. „Ich wollte einfach, dass sich das ändert. Vielleicht hat es etwas mit den Hormonen zu tun, oder dass alle ständig nervös sind. Aber ich glaube meistens gibt es Streit aufgrund von Missverständnissen.“

In einem leeren Klassenzimmer im dritten Stock der Schule stellt Baschlak gemeinsam mit drei gleichaltrigen Schülerinnen, ebenfalls Mediatorinnen, einen Stuhlkreis auf. Dann nimmt er einen Sprechball in die Hand und wirft ihn Olena Pintschuk zu. „Wie fühlt ihr euch denn, wenn es Luftalarm gibt?“, fragt sie in die Runde. „Ich habe Kopfschmerzen und kann mich oft nicht konzentrieren und ich schlafe schlecht“, erklärt eines der Mädchen. Ängste und Panikattacken kämen leider immer öfter vor, erklärt Pintschuk. Sie zeigt der Gruppe Techniken, um sich in solchen Momenten zu beruhigen und auf die Umgebung zu besinnen.

Mit den Händen sollen sich die Schüler*innen auf Unterschenkel, Oberschenkel und Arme klopfen. „Wir versuchen, ihnen Methoden mitzugeben, die sie jederzeit einsetzen können“, sagt Pintschuk. Auf die Frage, wie es ihnen allgemein geht, antworten die Kinder einsilbig – „okay“, sie zucken mit den Achseln, versuchen sich nichts anmerken zu lassen. Was Krieg für sie bedeutet? „Viel Zerstörung“, sagt Baschlak. „Viele unserer Väter sind nicht mehr da“, ergänzt seine Mitschülerin Maria Janenko. „Und viele Todesfälle.“ Sie selbst möchte Ärztin werden, allerdings nicht in Ripky fügt sie hinzu, lieber in Amerika.

Einmal im Monat finden solche Einheiten mit jeder Klasse statt, bei Bedarf auch öfter. In kleineren Gruppen treffen sich Schüler*innen und Psycholog*innen einmal in der Woche, um auf konkrete Probleme einzugehen. „Peaceful School“ soll dabei helfen, dass sich die Schüler*innen sicherer fühlen, mit Konflikten konstruktiv umgehen und dass die Qualität des Unterrichts verbessert wird. Doch als die Pausenglocke zum Mittagessen klingelt, heult draußen eine Sirene auf. In den Gängen breitet sich das Geräusch von Schülergruppen aus, die nun die Treppen nach unten nehmen, den Lehrkräften nach draußen folgen, durch den Hof und in den Schutzkeller, der wie in den meisten Gegenden in der Nähe der Sperrzone von Tschernobyl mit seinen 2163 Quadratmetern geräumig und solide ist.

 

„Hier sind wir ganz sicher“, sagt der Direktor, Serhii Lebedko, mit einem aufmunternden Lächeln. Das Wichtigste sei, dass die Schüler*innen aus dem Ausland wieder zurückkehren. „Wir brauchen unsere Kinder hier in unserem Land“, sagt er. „Deshalb müssen wir alles tun, um das Leben und Lernen hier so sicher wie möglich zu machen und ihnen eine Zukunft zu geben.“ Die Schule sei wichtig für die Gegend, so Lebedko. „Unsere Schüler*innen kommen aus 25 verschiedenen Siedlungen und unterschiedlichsten Verhältnissen. Wir bringen sie zusammen, schaffen Gemeinschaft – das ist wichtig für unsere Gesellschaft.“

Wissbegierige Kinder trotz ständiger Angst

An diesem Tag schlagen keine Raketen und Drohnen in der Ortschaft ein. Doch für viele Kinder sind die Sirenen beängstigend. Eigentlich hätten sie an diesem Tag noch malen sollen, sagt die sechsjährige Anja. Sie trägt ein rosarotes T-Shirt und silber-glitzernde Sandalen. Neben ihr sitzt Warwara, ebenfalls sechs Jahre alt, ebenfalls in pink gekleidet. Die beiden Freundinnen erleben ihren vierten Schultag. Sie würden gerne schreiben und rechnen lernen. Doch jeden Tag mussten sie in den Schutzkeller. „Jetzt gerade gibt es Alarm, weil Raketen und Bomben fliegen und wir in Sicherheit müssen“, sagt Anja, während Olena Pintschuk die Tränen nicht zurückhalten kann. „Ich habe Angst, wenn ich die Sirene höre“, sagt Warwara.

„Die jüngeren Kinder antworten oft viel ehrlicher und sagen sehr direkt, was sie denken“, sagt Olena Pintschuk. „Die Teenager sind da anders, sie wollen stärker und selbstbewusster erscheinen, als sie sind.“ Das sei eine normale Schutzreaktion, sagt die Psychologin – und eine Haltung, die oft von den Erwachsenen abgeschaut werde. „Aber wenn wir dann in einem Kreis sitzen, ist die Atmosphäre sehr intim, und dann sprechen auch die Älteren über ihre Ängste. Sie sagen, dass sie sich Sorgen um ihre Zukunft machen, dass sie nicht wissen, was morgen passiert.“

Für die Kinder und Jugendlichen ist Sport ein Weg, ihre Emotionen zu verarbeiten.

Ein wichtiges Mittel für die Schüler*innen, um mit den Gefühlen umzugehen, sei Gemeinschaftssport, erklärt Pintschuk. Tennis, Judo, Leichtathletik, Boxen, Turnen, Jazz. Er selbst will professioneller Volleyball-Spieler werden, wenn er groß ist, sagt Danilo Baschlak strahlend. Er hofft, dass der Krieg bis zu seinem Schulabschluss vorbei ist. In der Zwischenzeit halte er sich von den Nachrichten fern. "Je weniger man weiß, umso besser kann man nachts schlafen.“

Daniela Prugger berichtet als freie Journalistin u.a. aus der Ukraine