Friedenswende statt Zeitenwende!

Wie Deutschland die Zeit in die falsche Richtung wendet

Vor einem Jahr, am 27. Februar 2022, rief Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag eine Zeitenwende aus. Es ist nicht die erste sicherheitspolitische Zeitenwende. Gehen wir zurück in das Jahr 1979, in das Jahr des NATO-Doppelbeschlusses. Damals wurden die amerikanischen Pershing-Raketen gegen die russischen SS-20 aufgestellt. Aber immerhin gab es damals auch einen zweiten Teil des Beschlusses: Verhandlungen der Supermächte über Rüstungsbegrenzung und die verstärkte Fortführung der blockübergreifenden und vertrauensbildenden Aktivitäten im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Im Jahr 2022 ist es nur ein Einfachbeschluss, ein 100-Milliarden-Euro- Aufrüstungspaket.
Peter Tobiassen
© Pro Peace

Hätten wir den russischen Überfall auf die Ukraine verhindert, wenn Deutschland bereits seit 2014 mit zusätzlichen 100 Milliarden Euro aufgerüstet hätte? Vermutlich nicht. Was wir statt einer neuen Aufrüstungsspirale wirklich brauchen, ist eine ehrliche Analyse, warum Diplomatie und Politik diesen Krieg nicht verhindert haben: Wo haben die deutsche und die europäische Diplomatie versagt? Warum wurden nicht rechtzeitig Gegenmaßnahmen entwickelt? Warum wurde dem Druck der deutschen Wirtschaft nach billiger Energie ohne Blick auf die Sicherheits- und Friedensinteressen nachgegeben?

Für eine europäische Friedensperspektive brauchen wir eine starke Diplomatie und keine militärische Stärke. Es braucht einen Aufbau von starken Institutionen und Instrumenten der Zivilen Konfliktbearbeitung und die Einbeziehung des „Do no harm“-Prinzips. Das bedeutet, diplomatische Maßnahmen müssen im Blick haben, ob sie andere verletzen oder benachteiligen und somit neue Verwerfungen herbeiführen.

Eine starke Diplomatie bezieht auch die Perspektiven zivilgesellschaftlicher Akteure und benachteiligter Gruppen mit ein, lädt ein zur Partizipation und verteidigt deren Handlungsspielräume in repressiven Kontexten. Sie weiß, wie auf Einschränkungen von Menschenrechten schnell und wirksam reagiert wird. Und sie kann sich ebenso Völkerrechtsbrüchen von Verbündeten konsequent entgegenstellen.

Auch Deutschland muss dazu mehr beitragen. Wir müssen für Blauhelme und internationale Polizei schnell und im nötigen Umfang Personal zur Verfügung stellen können. Regionalen Konflikten muss das Instrumentarium der Zivilen Konfliktbearbeitung auf breiter Fläche zur Verfügung gestellt werden können.

„Vorrang für zivil“ darf keine Worthülse sein, sondern muss politisch Wirkung entfalten. Fangen wir an mit 10 Prozent vom Scholz’schen „Wumms“: zehn zusätzliche Milliarden Euro für Frieden und Entwicklung.

Peter Tobiassen ist Vorsitzender des Aufsichtsrates von Pro Peace.