Ihr Film „Disturbing the Peace“ (Den Frieden stören) über die israelisch-palästinensische Bewegung Combatants for Peace hatte 2016 Premiere. Warum haben Sie dieses Thema und diese Organisation für Ihren Film gewählt?
Stephen Apkon: Als ich eingeladen wurde, einen Film über die Region und den Konflikt zu machen, hatte ich das Gefühl, es gebe nichts darüber zu berichten, was nicht bereits gesagt wurde. Trotzdem stimmte ich zu, in den Nahen Osten zu reisen und Leute aller politischen Spektren beider Seiten zu treffen. Ich war noch immer überzeugt, nichts Neues sagen zu können, bis ich Mitglieder der Combatants for Peace traf. Vom ersten erst Moment an wusste ich, dass sie eine neue Geschichte erzählen konnten. Eine Geschichte, die verbindet. Und die ganz universelle Themen in sich vereint, die für uns alle wichtig sind. Ich erinnere mich an meine Frage, um was es bei den Combatants for Peace wirklich gehe. Chen Alon, ehemaliger Offizier der israelischen Armee, antwortete: „Wir sind eine Gemeinschaft von Menschen, die Verantwortung für ihre eigene Schöpfung übernehmen.“ Das faszinierte mich. Der Palästinenser Sulaiman Khatib, der über zehn Jahre in einem israelischen Gefängnis gesessen hatte, sagte: „Wir durchbrechen den Kreislauf der Gewalt, indem wir erkennen, dass wir alle unsere eigene Opferrolle aufgeben müssen.“ Es war die Kraft dieser beiden Ideen, die unseren Film entstehen ließ.
Auf welche Schwierigkeiten sind Sie während der Filmproduktion gestoßen?
Stephen Apkon: Die Produktion fiel mit dem Gaza-Krieg zusammen. Die Mitglieder der Combatants for Peace hatten enorme Schwierigkeiten, sich zu treffen und ihre Aktivitäten durchzuführen. Wie sie diese Herausforderungen gemeistert haben, hat uns sehr beeindruckt. Unser Film war eine Co-Produktion, Israelis und Palästinenser haben die ganze Zeit über gemeinsam daran gearbeitet. Es war eine extrem positive Erfahrung für uns. Es gab ein paar Situationen, in denen israelische Teammitglieder nicht ins Westjordanland kommen konnten. Zum Beispiel haben wir in einem Gefängnis mit palästinensischen Häftlingen in Nablus gedreht. Zu diesem Dreh konnten wir unsere israelischen Kolleginnen und Kollegen nicht mitnehmen. Darüber hinaus wurden wir ständig mit unseren eigenen Narrativen und Vorurteilen konfrontiert, zum Teil auch ohne uns darüber bewusst zu sein.
Hatten Sie Probleme, von offizieller Seite zum Beispiel die Filmerlaubnis zu erhalten?
Stephen Apkon: Nein. Wir haben nie um Erlaubnis gebeten. Ich habe mich oft gefragt, ob man uns irgendwann stoppen würde, aber das ist nie passiert. Die Menschen um uns herum haben sich für das Projekt wirklich ins Zeug gelegt. Natürlich haben wir auch Momente von Wut und Zorn – zum Beispiel während der Demonstrationen – erlebt, aber das hat unsere Produktion nicht aufgehalten. Ich könnte Details erzählen, um zu dramatisieren, etwa dass bei einer Demonstration eine Kamera zu Bruch ging. Aber oft tun wir das nur, um etwas sensationeller und schwieriger scheinen zu lassen, als es eigentlich war.
In Wirklichkeit ist die größte Herausforderung, den Glauben an die Kraft von Gewaltlosigkeit und Versöhnung nicht zu verlieren. Mitten im Gaza-Krieg war das für die Combatants for Peace besonders schwierig, vor allem in ihren eigenen Gesellschaften. Das ist Heldentum. Wahres Heldentum, über das man nicht unbedingt in den Nachrichten liest. Auch für uns war das die größte Schwierigkeit: Wir mussten weitermachen mit unserem Film über Gewaltfreiheit – während in Tel Aviv Raketen über unsere Köpfe flogen, ganz zu schweigen von der katastrophalen Situation in Gaza.
1.500 Menschen sehen 2016 den Film "Disturbing the Peace" beim Roger Ebert Film Festival (USA).
Der Film ist äußerst erfolgreich, auch international. Erinnern Sie sich an die erste Vorführung?
Stephen Apkon: Ja! Wir hatten Vorpremiere beim Ebertfest (Roger Ebert Film Festival) in den USA, ein Mekka für Filmliebhaber. Das Festival zeigt jedes Jahr nur zwölf Filme, und alle Besucher schauen alle Filme gemeinsam. Es kamen also 1.500 Menschen in den Kinosaal, ohne zu wissen, was sie gleich sehen würden. Und wir hatten keine Ahnung, wie ein Publikum auf unseren Film reagieren würde. Menschen ohne besondere Verbindung zum Thema Nahost. Ich erinnere mich, dass nach dem Abspann 1.500 Menschen gleichzeitig aufstanden und nicht aufhörten zu applaudieren. Als sie herausfanden, dass zwei Mitglieder der Combatants for Peace aus dem Film ebenfalls anwesend waren, sind sie komplett ausgeflippt! Wir sprachen noch eine Stunde lang mit den Gästen im Kino darüber, was alles möglich war. Die Stimmung breitete sich auf das gesamte Festival aus.
Man sagte mir, dass in der ganzen Geschichte des Festivals noch nie ein Film eine solch starke Reaktion ausgelöst hat. „Disturbing the Peace“ wurde mit dem First Ebert Humanitarian Award ausgezeichnet. In dem Moment verstanden wir, dass unser Film tatsächlich eine Verbindung zum Publikum herstellen konnte. Und nicht nur eine Verbindung zu der Lebenswirklichkeit im Nahen Osten, sondern zu all unseren eigenen Gesellschaften.
Wann kam der Film in die Heimat der Combatants for Peace?
Stephen Apkon: Die internationale Premiere war beim Jerusalem Film Festival. Das Publikum war gemischt israelisch-palästinensisch. Die Reaktion auf den Film war beeindruckend. Leider konnten viele Menschen aus dem Westjordanland nicht nach Jerusalem kommen. Innerhalb einer Woche organisierten wir daher eine zweite Vorführung im Westjordanland, an der Trennmauer. Es kamen Hunderte Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem gesamten Westjordanland, und Hunderte Israelis gesellten sich dazu. Seite an Seite schauten sie den Film, teilten ihre Leidensgeschichten, aber auch die Vision einer neuen Zukunft. Dort draußen zu sein, unter einem Vollmond-Himmel voller Sterne, und zu sehen wie diese Bilder an eine Mauer projiziert wurden, die zwei Völker trennt, war überaus bewegend. Es war eine sehr, sehr besondere Filmvorführung.
Für die erste Filmvorführung im Westjordanland kamen Hunderte Menschen aus Palästina und Israel an der Trennmauer in Beit Jala zusammen.
Sie haben den Film auch Politikern und Soldatinnen in Israel und Palästina gezeigt. Wie haben sie reagiert?
Stephen Apkon: Der Film fordert alle Zuschauerinnen und Zuschauer heraus. Sie könnten anhand der Fragen, der geäußerten Ängste, Hoffnungen und Wünsche nicht unterscheiden, ob der Film gerade in Israel oder Palästina gezeigt wurde. In vielen Fällen gleichen sich die Reaktionen sogar aufs Wort. Und alle laufen auf dieselbe Frage hinaus: Gibt es wirklich Menschen auf der anderen Seite, die sich für uns interessieren? Gibt es dort wirklich Menschen, mit denen wir Frieden schließen können? Es entsteht ein Gefühl, dass es möglich ist, sich zu engagieren und selbst etwas zu ändern. Natürlich muss dieses Gefühl dann auch in die Tat umgesetzt werden. Das ist wichtig für die Aussage des Films und für die Arbeit der Combatants for Peace.
Was ist für Sie persönlich die wichtigste Botschaft des Films?
Stephen Apkon: Ich finde es am wichtigsten, dass wir verstehen, dass die Narrative, die uns sagen, wie es war, wie es ist und wie es immer sein wird, nur Geschichten sind. Es ist unsere Entscheidung, unsere Verantwortung, welche Realität wir erschaffen. Wir müssen nicht in den Narrativen stecken bleiben, die unsere Gesellschaft und wir selbst uns vorgeben. Wir können sie überwinden, können die Dualität zwischen uns und „den Anderen“ überwinden. Unsere gemeinsame Menschlichkeit anerkennen.
Das führt mich zurück zu meinem ersten Treffen mit Chen Alon: die Anerkennung, dass wir eine Gemeinschaft von Menschen sein können, die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Dass wir den Kreislauf der Gewalt, des Feindbilds „der Anderen“ und der eigenen Wahrnehmung als Opfer durchbrechen können; dass Gewaltfreiheit der einzige Weg ist.
In „Disturbing the Peace“ geht es nicht nur um den Konflikt im Nahen Osten. Was können wir in Bezug auf andere – und unsere eigenen, persönlichen – Konflikte aus dieser Geschichte lernen?
Stephen Apkon: Stellen Sie sich vor, Sie sind im Nahen Osten aufgewachsen, nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Abhängig davon, in welchen Haushalt sie geboren wurden, haben Sie eine vollkommen andere Sicht auf die Realität. Darauf, wer der Gute und wer der Böse ist. Wer der Held ist und wer der Schurke. Ganz ähnlich verhalten wir uns selbst! Wir wachen morgens auf und wissen genau, dass wir die Helden in unserer Geschichte sind. Wir suchen nach dem Bösewicht. Wir wissen auch, wer das Opfer ist, und suchen den Täter. Dieses Muster müssen wir aufbrechen. Wir müssen unsere Augen dafür öffnen, wie unsere Narrative und Sichtweisen für „die Anderen“ aussehen. „Die Anderen“, die wir selbst geschaffen haben.
Michael Moore (links) und Stephen Apkon (2. v. l.) mit Aktivisten der Combatants for Peace und Co-Produzentin Marcina Hale (rechts) beim Traverse Film Festival (USA). Disturbing the Peace gewann hier die "Beste Dokumentation" und den Zuschauerpreis.
Beschreibt dies das Programm Ihrer Produktionsfirma Reconsider?
Stephen Apkon: Im Kern geht es uns bei Reconsider um die Anerkennung des Lebens als kreative, schaffende Erfahrung. Es gibt nichts, das wir tun müssen. Jede von uns geschaffene Kultur und die von uns kreierte Gesellschaft basieren auf Narrativen, auf einer Geschichte, auf Vereinbarungen. Wenn wir einen Schritt zurücktreten und unser Leben als kreativen Prozess erkennen, können wir anfangen, die Verantwortung für unser Schaffen in der Welt zu übernehmen. Es ist vor allem eine Einladung, dieses Schaffen bewusster zu tun.
Reconsider interessiert sich für alle Konflikte und für Fragestellungen der Umwelt und sozialer Gerechtigkeit. All diese Probleme, die uns nachts wachhalten und unser Überleben bedrohen. Wir Menschen tendieren dazu, solche Fragen wie Krankheiten zu betrachten. Bei Reconsider glauben wir, dass sie nur die Symptome einer tiefliegenderen Krankheit sind. Diese Krankheit ist unsere Abkopplung von uns selbst, voneinander, von der natürlichen Welt. Und vom bewussten Erleben des Lebens selbst. Darauf fokussieren wir unsere Arbeit.
Wie sieht Ihr nächstes Filmprojekt aus?
Stephen Apkon: Wir recherchieren gerade mehrere Projekte für mögliche Filme, die alle mit den genannten Themen zusammenhängen. Eines der Projekte befasst sich mit der Natur und der Frage, wie wir die menschliche Existenz wieder in Balance bringen können. Wohin möchten wir von hier aus gehen? Wir wollen aber nicht nur aus einer trostlosen und dunklen Perspektive darauf schauen, sondern die Möglichkeiten aufzeigen, die wir haben.
Wir freuen uns, mehr davon zu erfahren. Herzlichen Dank für das Gespräch.
Stephen Apkon ist Filmemacher, Unternehmer und Buchautor ("The Age of the Image", 2013). Im Jahr 2001 gründete er das Jacob Burns Film Center in new York. Das gemeinnützige Film- und Ausbildungszentrum wurde zu einem der führenden US-amerikanischen Filmzentren. Mit "Disturbing the Peace" feiert er sein Debut als Regisseur.
Die DVD des Films mit deutschen und englischen Untertiteln ist hier bei uns erhältlich.
Weitere Informationen sowie einen Trailer zum Film (englisch) finden Sie unter www.disturbingthepeacefilm.com.
Combatants for Peace
Die Combatants for Peace sind seit vielen Jahren Partnerorganisation des forumZFD in Israel und Palästina. Die Mitglieder der 2006 gegründeten israelisch-palästinensischen Bewegung setzen sich für die gewaltfreie Beilegung des Konflikts zwischen den beiden Nationen ein. Als ehemals verfeindete Kämpferinnen und Kämpfer haben sie sich von der Gewalt abgewandt und engagieren sich heute gemeinsam für Versöhnung und ein friedliches Zusammenleben. 2017 wurden die Combatants for Peace für den Friedensnobelpreis nominiert.
Einige persönliche Zeugnisse von Mitgliedern der Combatants for Peace können Sie in der Broschüre „Der andere Weg zum Frieden“ nachlesen, die auch bei uns bestellt werden kann.
Die Frauengruppe der Combatants for Peace führt eine gewaltfreie Demonstration der Bewegung an.