„Weltverbesserin“ ist für mich kein Schimpfwort

Ein Interview mit der Theologin Dr. Margot Käßmann

Kurz vor Ostern hatte unser Aufsichtsratsmitglied Peter Tobiassen die Gelegenheit, mit der Theologin und ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Dr. Margot Käßmann, zu sprechen. Beim Treffen in der Nähe von Hannover sprach er mit ihr über die Entwicklung und das 25-jährige Jubiläum von Pro Peace, über aktuelle friedenspolitische Herausforderungen ebenso wie über die Corona-Pandemie. Margot Käßmann ist in ihrer Funktion als „Botschafterin“ seit vielen Jahren mit der Friedensarbeit von Pro Peace verbunden.
Margot Käßmann
© Jens Schulze, Pro Peace

Pro Peace feiert in diesem Jahr sein 25jähriges Jubiläum. Als Botschafterin von Pro Peace haben Sie unsere Arbeit begleitet. In zwei Sätzen: Was wünschen Sie Pro Peace für die nächsten 25 Jahre?

Wenn ich die Entwicklung sehe mit der Vereinsgründung vor 25 Jahren bis hin zum etablierten Fachdienst für zivile Konfliktbearbeitung heute, dann dürfen die Wünsche ruhig visionär sein: Ich wünsche dem Zivilen Friedensdienst, dass er in 25 Jahren, also im Jahr 2046, die Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik übernommen hat, die heute schon – selbst von der Bundesregierung – postuliert wird: Vorrang für Zivil. Dass zivile Maßnahmen zur Konfliktbearbeitung militärische Optionen in den Hintergrund gedrängt haben und Waffeneinsätze in Konflikten auf polizeiliche Maßnahmen reduziert werden konnten. 

Bei der Gründung von Pro Peace vor 25 Jahren haben Vertreter*innen der Kirchen eine wichtige Rolle gespielt. Wie würden Sie heute die friedenspolitischen Herausforderungen beschreiben, vor der die Kirchen stehen? 

Ich sehe vor allem zwei Herausforderungen: Rüstungsexporte und den Missbrauch von Religionen in Konflikten. 
Die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) gibt jedes Jahr einen Bericht zur Rüstungsexportpolitik heraus. In dem Bericht wird nachgewiesen, in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland Waffen in Krisengebiete exportiert und Konflikte damit eskaliert. Aber das wird in der Gesellschaft kaum noch wahrgenommen. Ich finde, dass die an der GKKE beteiligten Kirchen diesen Skandal wesentlich deutlicher herausstellen müssten.
Herausforderung zwei: Religionen lassen sich missbrauchen, um Konflikte wirtschaftlicher oder politischer Art zu verschärfen. Die Kirchen müssen im interreligiösen Dialog dieses Problem immer wieder aufgreifen. Ich bin seit einiger Zeit Mitglied im Zentralausschuss der „World Conference of Religions for Peace“ (WCRP). Gerade im November 2020 hatten wir ein Treffen unter dem Titel „Assembly on Women, Faith, and Diplomacy“ über die Rolle der Frauen in den Weltreligionen. Einer der Schwerpunkte: Wie können Frauen aus den Weltreligionen beitragen zur Deeskalation von Konflikten. Für mich ist das sehr hoffnungsvoll. Wir haben in Liberia gesehen, dass es gerade die Frauen waren, die den Friedensprozess über die Religionsgrenzen hinweg energisch in Gang gebracht haben. 

Im Jahr 2019 haben Sie an einem Aktionstag gegen Atomwaffen am Fliegerhorst Büchel im Hunsrück teilgenommen. Dort sind taktische Atomwaffen der US-Streitkräfte gelagert. Was waren Ihre Beweggründe, sich dem Protest gegen die Atomwaffen anzuschließen?

Ich finde es unfassbar, dass es nach den Erfahrungen von Hiroschima und Nagasaki immer noch Atomwaffen gibt. Für mich sind sie keine Abschreckung, sondern es ist ein Schrecken, dass Nationen Waffen mit einem derart zerstörerischen Potential haben und dass sie von Deutschland aus eingesetzt werden könnten. Ich habe einmal in Hiroschima an einer Gedenkfeier am 8. August teilgenommen und die Dokumentationen dort gesehen und Zeugenaussagen gehört. Atomwaffen müssen gebannt werden. Mir ist nicht begreiflich, warum die Bundesrepublik Deutschland den Verbotsvertrag bis heute nicht unterzeichnet hat.

Margot Käßmann und Peter Tobiassen im Gespräch.

In einer häufig zitierten Predigt beim Neujahrsgottesdienst 2010 im Berliner Dom haben Sie als damalige EKD-Ratsvorsitzende gesagt: „Nichts ist gut in Afghanistan“ und „Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden.“ Hat sich an dieser Einschätzung etwas geändert in den letzten zwölf Jahren?

Das würde ich heute noch genauso sagen. In Afghanistan ist auch nach zwanzig Jahren Militäreinsatz kaum Frieden gewachsen. Die Fantasie des Bundestages beschränkt sich im Wesentlichen auf die Mandatsverlängerung für den Bundeswehreinsatz. Mir wurde damals vorgehalten, ich könne mich ja mit den Taliban in ein Zelt setzen und bei Kerzenlicht beten. Seit kurzem gibt es nun Verhandlungen mit den Taliban, weil klar ist, dass Frieden nicht durch Intervention von außen entstehen kann, sondern nur, wenn Frieden von innen in diesem Land entsteht. Dazu müssen alle Konfliktparteien an einen Tisch. 

Das Programm des Ziviler Friedensdienstes ist von anfänglich knapp 1 Million Euro (2 Millionen DM) im Jahr 1999 auf mittlerweile 55 Millionen Euro (2021) angewachsen. Angesichts der enormen Steigerung des Verteidigungshaushaltes auf heute fast 47 Milliarden Euro ist dies aber dennoch eine eher bescheidene Summe. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie solche Zahlen lesen?

Ich suche das richtige Wort: Fassungslos? Enttäuschend? Warum investieren wir immer noch derart unverhältnismäßig in Militär, sehen aber nicht, dass auch zivile Friedensdienste finanziert werden müssen. Wie wäre es, wenn es umgekehrt wäre? Würden 47 Milliarden Euro in zivile Konfliktbearbeitung investiert, in Mediation, in Konfliktentschärfung, in Zivilgesellschaft, in Landwirtschaft vor Ort, wie sähe die Welt dann aus? 

Sie haben mehrfach darauf hingewiesen, dass Sie den Eindruck hätten, in Deutschland müssten sich inzwischen diejenigen rechtfertigen, die dafür eintreten, ohne Waffen Frieden zu schaffen. Ist das immer noch so?

Den Eindruck habe ich weiterhin. Pazifistinnen und Pazifisten werden immer noch als naiv belächelt. Aber diejenigen, die meinen, in bestimmten Situationen – nehmen wir Libyen oder Afghanistan – durch Militärinterventionen Frieden zu schaffen, sind doch widerlegt. Ist in diesen Ländern Frieden geschaffen worden? Ich sehe das nicht. Oder nehmen wir das Beispiel Kosovo. Hier muss jetzt eigentlich deutlich investiert werden, um alte Feindbilder zu überwinden, damit diese in ein paar Jahren nicht wieder aufbrechen können. Pro Peace weiß das durch die eigene Arbeit dort ja sehr genau. Das ist langfristige Kommunikations- und Bildungsarbeit in Kindergärten, in Schulen und mit Erwachsenen, um Feindbilder zu entschärfen und langfristig in Freundbilder zu verändern. In der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird das kaum als Arbeit zur Konfliktbewältigung wahrgenommen.

Gilt das nicht insbesondere auch für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die über die Maßnahmen zur Konfliktbewältigung entscheiden?

Ich habe den Eindruck, dass der Bundestag immer erst dann reagiert, wenn ein Konflikt eskaliert ist, und dann meistens meint, es könne nur noch Waffengewalt helfen. Ein langfristiges Denken, rechtzeitig zu sehen, was sich anbahnt, ist dort kaum vorhanden. Es gibt kaum Entscheidungen, mit denen rechtzeitig Geld in die Hand genommen wird für Mediation, für ausgebildete Friedensfachkräfte, um einen Konflikt gar nicht erst eskalieren zu lassen. Denken wir an den Völkermord in Ruanda im Jahr 1994. Der hatte sich lange angebahnt. Viele haben „prophezeit“, dass der Konflikt eskalieren wird. Dann müsste ein Parlament sagen: Jetzt haben wir hier eine „Friedenstruppe“, die mit den Werkzeugen der zivilen Konfliktbearbeitung die unterschiedlichen Interessensgruppen an einen Tisch bringt, bevor der Konflikt eskaliert. 

Kommen wir zu dem derzeit alles beherrschenden Thema: die Corona-Pandemie. Sehen Sie eine Verantwortung Deutschlands, den armen Ländern des globalen Südens bei der Überwindung der Pandemie zu helfen? 

Wir haben einerseits eine solidarische Verpflichtung, aber andererseits ist eine solche Verantwortung durchaus auch Eigennutz. Wir alle wissen: Wenn Impfungen die Länder des globalen Südens nicht erreichen, werden Mutationen des Virus zurück nach Europa kommen. Deshalb müssen die Patente für die Impfstoffe freigegeben werden, damit die Länder des globalen Südens ebenfalls Impfkampagnen finanzieren können. 

Sie haben kürzlich dazu aufgerufen, den Klimawandel genauso zu bekämpfen wir die Corona-Pandemie. Ist denn beides vergleichbar?

Langfristig ist beides vergleichbar, weil auch der Klimawandel alle Menschen betreffen wird. Beim Coronavirus haben wir heute sehr akut Angst um unser Leben. Der Klimawandel wird die Generationen unserer Kinder, vor allem aber Enkel und Urenkel genauso akut betreffen. Es wird dramatische Nahrungs- und Trinkwasserengpässe geben. Menschen werden durch den Klimawandel in lebensbedrohliche Situationen kommen. Ich war vor ein paar Jahren in Bangladesch. Dort war das Steigen des Meeresspiegels schon spürbar. In Indonesien stellt sich die Frage, ob die Hauptstadt Djakarta gehalten werden kann. In dem heißen Sommer 2018 entstand auf einmal ein Gespür dafür, dass Klimawandel nicht nur eine Zeitungsmeldung ist, sondern auch uns betrifft. 

Soziale Gerechtigkeit, lokal wie international, war Ihnen immer ein wichtiges Anliegen und ist unmittelbar mit dem Friedensthema verbunden. Fürchten Sie, dass diese Anliegen in den kommenden Jahren in den Hintergrund geraten könnten?

Bei der sozialen Gerechtigkeit ist die Herausforderung, dass es eine Art Lastenausgleich zwischen den Starken und den Schwachen gibt. Einerseits in unserem Land, aber auch international, weil klar ist, dass Krisen – wie jetzt die Corona-Pandemie – auf sehr ungerechte Weise wirken. Sie werfen Ärmere oft in existenzielle Nöte, während andere unbeschadet durch Krisen kommen. 

Bei der Friedensfrage ist die Herausforderung, dass sie akut bleibt. Wir haben den Krieg in Syrien scheinbar akzeptiert, er gehört seit Jahren zum Alltag. Da wird nicht mehr hingeschaut, was eigentlich passiert. Wir haben zurzeit neunundzwanzig Kriege, die in dieser Welt täglich Menschenleben zerstören. Aber es gibt kein Aufbegehren in unserem Land dagegen.  Auch die Politik müsste doch eigentlich – insbesondere die christlichen Parteien -  der Prämisse von Jesus folgen: „Selig sind, die Frieden stiften“ (Matthäus 5, 9). Das Ökonomische wird ständig in den Vordergrund gestellt und ist das alles schlagende Argument – das ist für mich schon sehr bedrückend.

Zum Thema Flucht haben Sie oft gesagt, dass viel zu viel über Geflüchtete als Problem gesprochen würde und die Menschen dabei zusehends aus dem Blickfeld geraten. Worin sehen Sie an dieser Stelle als Theologin die größte Herausforderung?

Ganz biblisch würde ich mit Jesus sagen: „Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen.“ (Mt 25,43) In der Aufnahme von Menschen in Not und Menschen auf der Flucht, da begegnen wir Jesus. Das ist für mich christliche Haltung und Grundüberzeugung. Als Theologin finde ich es schwierig, wenn wir Menschen nicht als Subjekte sehen, denen wir auf Augenhöhe mit ihrer jeweiligen Geschichte, ihren Namen, ihren Erzählungen begegnen, sondern sie als „die Flüchtlinge“ bezeichnen. Das degradiert Menschen in ihrer Würde. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild und gleich viel wert. Es ist nicht „die Flüchtlingskrise“, sondern eine Lebenskrise der einzelnen Menschen, die in die Flucht getrieben wurden. 

Sind die Kirchen in der Bundesrepublik klar genug?

2015, als es massive Angriffe gab auf die Öffnung der Grenzen, haben die Kirchen für Migranten in Not einen ungeheuer wichtigen Beitrag geleistet zum sozialen Frieden in diesem Land. Viele Kirchengemeinden haben Geflüchtete aufgenommen, Deutschkurse angeboten und zur Integration beigetragen. Da war Kirche sehr deutlich. Das ist sie auch heute mit dem Seenotrettungsschiff Sea-Watch 4, finanziert von der Evangelischen Kirche. Das ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ein Zeichen: Wir dürfen Menschen in Not nicht ertrinken lassen. 

Was macht Sie optimistisch, dass die Welt die aktuellen großen Probleme in den Griff bekommt? Steuern wir auf eine finale Katastrophe zu? 

Nein, uns steht der Weltuntergang nicht bevor. Mir ist ja oft vorgeworfen worden, ich sei eine „Weltverbesserin“. Aber das ist für mich kein Schimpfwort. Wir sind in diese Welt gestellt, um diese Welt zu verändern, damit eine Spur des Reiches Gottes sichtbar ist. Das Reich Gottes kommt dann erst eines Tages in Gottes Zukunft. Wir sollten den Mut haben, zumindest ein paar Grundsteine von dieser Zukunft mit Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu legen, sonst haben wir als Christ*innen und Kirchen nicht mehr viel zu sagen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Peter Tobiassen, seit acht Jahren ehrenamtliches Aufsichtsratsmitglied von Pro Peace