
Frau Guérot, die Europäische Union ist seit Jahren im Krisenmodus. Nach der Bankenkrise haben wir derzeit im Angebot den Brexit, den Migrationsstreit, Populismus. Wann ist die Hoffnung, die einmal mit Europa verbunden war, verloren gegangen?
Ulrike Guérot: Ja, das ist eine wirklich gute Frage. In den fünfziger Jahren waren alle irgendwie für Europa. Das ist in der Zwischenzeit völlig gekippt. Diejenigen, die damals die Schlagbäume abgerissen haben, kamen unmittelbar aus der traumatisierenden Erfahrung des einen Weltkrieges oder auch der zwei Weltkriege. Sie hatten in den 50er Jahren eine ganz andere Friedenssehnsucht als heute, wo Europa zumindest in weiten Teilen seit 70 Jahren befriedet ist. Nun haben wir ein Europa der sozialen Verwerfungen, ein Europa der Flüchtlingskrise, des Brexit und so weiter. Schätzen wir den Frieden heute noch wert? Das wäre die eine Frage. Das tun wir sicherlich. Aber die andere Frage ist: Was passiert eigentlich in Zeiten, in denen wir den Frieden absolut setzen und die Sachen trotzdem nicht stimmen für die Bürger? Was passiert eigentlich mit dem Frieden, wenn viele Leute darüber nachdenken, dass doch offensichtlich alles trotzdem ganz anders sein müsste?
Die europäische Einigung ist untrennbar mit den Erfahrungen des Krieges verbunden. Ist die Union denn auch heute noch ein Friedensprojekt?
Ulrike Guérot: Wenn Sie Frieden jetzt als die Abwesenheit von Krieg definieren, dann ist die EU noch ein Friedensprojekt. Wenn Sie sagen, der Frieden ist immer auch der soziale Frieden, dann ist die EU heute kein Friedensprojekt mehr. Wir müssen raus aus diesem „die Deutschen zahlen für die Griechen“ oder „die Österreicher zahlen für die Spanier, für die Italiener“ oder was auch immer. Wenn wir eine Demokratie wollen als europäisches Friedensprojekt, dann ist die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger der Preis.
Auf der anderen Seite hören wir immer mehr von der Sicherheits-Union: Sicherheit vor Flüchtlingen, Sicherheit vor Terror, Frontex, Überwachung. „L’Europe, qui protège.“ „Ein Europa, das schützt.“ Das waren die Worte von Emmanuel Macron. Das sind die Worte der österreichischen Ratspräsidentschaft. Das hat auch Kommissionspräsident Juncker gesagt in seiner Rede im September.
Juncker sagte auch: „Europa wird niemals eine Festung sein“, und vervierfacht die Mittel für Grenzsicherung. Er sagt: „Militarisierung ist nicht zu befürchten“, und spricht zugleich von einer „Verzwanzigfachung der Verteidigungsausgaben“, und er verbindet das mit dem Appell: „Europa muss zusammenstehen.“ Das wirkt wie der verzweifelte Versuch, mit dem Augenmerk auf Bedrohungen von außen von der Zerrissenheit im Inneren abzulenken.
Ulrike Guérot: Seine Lesart lautet: Europa müsse seine Werte verteidigen. Wenn Diskurse sich zu sehr auf Sicherheit und auf Schützen beziehen, dann will man etwas schützen, aber sicherlich nicht die Werte, sondern de facto sein nacktes Leben und das Geld. Und da wünsche ich mir, dass wir hingucken und zumindest ehrlich sind. Je mehr der Europa-Diskurs sich auf Sicherheit bezieht, desto mehr verraten wir die europäischen Werte der Aufklärung, die wir doch eigentlich zu schützen vorgeben.
Sie stehen für eine ebenso radikale wie naheliegende Idee, nämlich die Selbstverständlichkeiten eines Nationalstaats auf Europa zu übertragen: eine europäische Staatsbürgerschaft mit gleichen Rechten bei Wahlen, bei Steuern und Sozialem und ein Parlament, das echte Mitbestimmungsrechte hat. Was gibt Ihnen den Mut, ausgerechnet jetzt mit so einer doch irgendwie verwegenen Idee aufzutreten?
Ulrike Guérot: Wann, wenn nicht jetzt? Eine Krise ist ja der Moment der Entscheidung, ob man leben oder sterben will. Und die eigentliche Frage ist jetzt nur noch: Kommen wir in der Dystopie oder in der Utopie raus? Steuern wir in ein populistisches, autoritäres Regime, obendrauf noch ein bisschen Überwachungsstaat? Oder kriegen wir irgendwie die Kurve und schaffen wir ein anderes Europa: demokratisch, sozial, liberal, offen. Und dafür mache ich einen Vorschlag, den Sie netterweise radikal und naheliegend genannt haben. Denn etwas, das naheliegt, kann gar nicht so radikal sein. Es ist eher normal. Die Frage ist vielmehr, ob das Weitertreiben des heutigen Zustandes, wo wir einen Markt haben und eine Währung, aber keine Demokratie, ob das nicht eigentlich radikal ist.
Drei Sachen sind weitgehend gleich vor dem Recht in der EU: Dienstleistung, Kapital, Güter. Die einzigen, die trotz Personenfreizügigkeit nicht gleich sind vor dem Recht, sind wir Bürgerinnen und Bürger als politische Subjekte. Aber wir sind eigentlich der Souverän. Darum finde ich meine Idee überhaupt nicht radikal. Ich schlage nur vor, das letzte bisschen Stückchen Meter endlich mal zu vollenden und hinter die Rechtsgleichheit von Gütern, Dienstleistungen und Kapital auch die Rechtsgleichheit von Personen zu setzen.
Um diese Idee voranzubringen, haben Sie das European Balcony Project ins Leben gerufen.
Ulrike Guérot: Die Idee war einfach: Wie kann ich den europäischen Bürgerinnen und Bürgern sagen, wir haben das Schicksal Europas in der Hand? Das machen für uns nicht die Staats- und Regierungschefs. Wir sind der Souverän. Wir können es ausrufen. Wir haben 1918 alle möglichen Republiken ausgerufen. Dann machen wir das jetzt einfach 100 Jahre später noch mal. Ich bin tatsächlich selbst überrascht, mit welcher Dynamik diese Idee zum Selbstläufer geworden ist. Jetzt haben wir praktisch jeden Tag drei, vier Theater, die sich anmelden. Aber, was mir sehr wichtig ist: Es geht nicht nur um Theater. Es geht nicht einfach um eine öffentliche Inszenierung, dass irgendwer mal wieder irgendwas im Theater macht. Sondern alles ist Theater. Jeder öffentliche Platz ist Theater. Jeder kann sich einen Stuhl nehmen, auf den öffentlichen Platz stellen, in den Park, auf einem Spielplatz auf die Rutschbahn klettern. Es geht um einen emanzipatorischen Akt der europäischen Bürgerinnen und Bürger, die da an einem Tag zum gleichen Moment einfach nur diesen einen Sprechakt machen: „Wir sind europäische Bürgerinnen und Bürger. Und wir wollen gleich sein vor dem Recht.“ Das ist der Sprechakt. Das machen wir von Bukarest bis Porto und von Dublin bis Thessaloniki.
Ihre Idee einer Europäischen Republik steht für ein solidarisches Europa, in dem die Bürgerinnen und Bürger die gleichen sozialen Rechte haben. Wie aber denken Sie diese Republik an ihren Grenzen und darüber hinaus angesichts globaler Herausforderungen, wie Klimawandel und Migration? Auch bei diesen Fragen geht es im Kern um Solidarität. Wie also verhält sich diese Republik an ihren Grenzen?
Ulrike Guérot: Das ist eine ganz schwierige Frage. Natürlich ist die Europäische Republik nicht gedacht als Superstaat, der sich abgrenzt gegenüber was auch immer, China, den USA oder, vor allen Dingen, Afrika. Sie ist gedacht als eine Avantgarde nach dem Motto: Irgendwo muss man ja anfangen. Aber anfangen kann ich immer nur bei mir selbst. Und deswegen wollte ich den republikanischen Impetus des europäischen Kontinents wieder aufgreifen: Wir überwinden in Europa den Nationalstaat, den Nationalismus, und dann schauen wir mal, wie wir aus dieser Bewegung in Europa etwas schaffen, was die gleiche Bewegung in der Welt erzeugt. Ich bin fest davon überzeugt, dass das die Aufgabe der Menschheit im dritten Jahrtausend ist.
Der Trend der Zeit ist eine Glokalisation, also eine neue Verbindung des Lokalen mit dem Globalen. Wir sind, glaube ich, in einem Prozess von Dekonstruktion der heutigen Nationalstaaten. Und ich würde mich einfach freuen, wenn die Europäische Republik, indem sie das hier auf dem Kontinent vordenkt und vormacht, sozusagen einen Beitrag zur weiteren weltgeschichtlichen Entwicklung gibt. Im Grunde ist die Europäische Republik, wenn Sie sie so verstehen, ein erster Schritt in Richtung der Idee einer Weltrepublik.
Der französische Soziologe Marcel Mauss hat in den 1920er Jahren ein sehr gutes Buch geschrieben, das gerade wieder viel Beachtung findet. Er fragt darin: Was ist eine Nation? Nicht Sprache oder Ethnie, sondern eine Nation ist institutionalisierte Solidarität. Das heißt, diejenigen, die in der Solidarität sind, begründen eigentlich eine Nation. In der Europäischen Union haben wir noch keine solche institutionalisierte Solidarität. Im Fall der Griechenlandkrise hat der Bundestag immer wieder diskutiert, ob wir den Griechen nun helfen oder nicht. Institutionalisierte Solidarität wäre das, was Emmanuel Macron jetzt vorschlägt: ein Euro-Zonen-Budget, ein Euro-Zonen-Parlament oder auch eine Europäische Arbeitslosenversicherung.
Welche Akzente sollte aus Ihrer Sicht Deutschland in der Europapolitik in den nächsten Monaten setzen, damit die Union noch eine Chance hat?
Ulrike Guérot: Ich würde tatsächlich vorschlagen, wir fangen mit einem europäischen Wählerregister an. Wir zählen einfach mal alle Bürger von A bis Z. Das haben wir ja nicht. Wenn wir gemeinsam wählen wollen, was eine Voraussetzung wäre für eine gemeinsame Demokratie, dann bräuchte man ein europäisches Wählerregister. Was wir heute haben, ist zwar eine geheime, allgemeine und direkte Wahl zum Europäischen Parlament, aber keine gleiche. Wir wählen das Europäische Parlament nicht zu gleichen Bedingungen. Darum wäre das meine erste Forderung.
Sie scheinen eher zuversichtlich auf Europa zu blicken. Was ermutigt Sie im Moment am meisten?
Ulrike Guérot: Ich blicke nicht zuversichtlich auf Europa. Ich halte es eher mit Václav Havel: „Hoffnung ist nicht, dass die Dinge besser werden, sondern dass man das Richtige tut, auch wenn sie nicht besser werden.“ Das mache ich. Ich säe diese Idee einer europäischen Republik, auch in diesem Interview. Damit überzeuge ich vielleicht wieder 10, 20 Leserinnen und Leser. Ich möchte auf diese Weise den Boden bereiten für ein neues Europa, das zu dem Zeitpunkt kommen wird, wenn die Zeit reif ist. Diesen Zeitpunkt kann ich nicht erzwingen. Aber was nicht gedacht ist, kann nicht werden.
Woher nehmen Sie die Energie, die Sie in dieses Projekt hineinstecken?
Ulrike Guérot: Ich habe 2012 eine Postkarte mit der Idee gehabt, sieben Jahre später habe ich ein Lab, ein Institut, eine Professur, ein paar Bücher auf dem Markt, Hunderte von Interviews und Artikeln und Interviewanfragen ohne Ende. Offensichtlich ist das wie bei Mayonnaise, immer ein Tropfen Öl dazu und die Mayonnaise geht auf. Und das Einzige, was ich tue, ist, den Boden für ein plausibles, anderes, demokratisches, soziales Europa zu bereiten, in der Hoffnung, dass wenn der Weltgeist wieder so ein Fenster der Geschichte aufmacht, die Republik vielleicht durch die Tür kann. Der Plan für den Euro wurde 1970 erdacht. Der hat schlappe 19 Jahre gebraucht, um durch die Tür der Geschichte zu gehen, als die deutsche Wiedervereinigung kam. Und so verstehe ich meine Republik. Als eine Idee, von der man schon mal weiß. Die in vielen Schubladen liegt. Von der viele schon gehört haben. Und wenn die Tür der Geschichte aufgeht, dann hoffe ich natürlich, dass die Europäische Republik durch die Tür kommt.
Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Guérot.
Immer mehr Initiativen für ein demokratisches und soziales Europa gehen an die Öffentlichkeit, wie zum Beispiel beim „March for a new Europe“ am 23. Juni 2018 in Berlin und anderen Städten.