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Westlicher Balkan: Frieden entsteht im Dialog – nicht im Schweigen

Ein Gespräch mit Tatjana Milovanović, Programmdirektorin des Post-Conflict Research Center (PCRC) in Sarajevo

Seit 15 Jahren arbeitet das Post-Conflict Research Center (PCRC) daran, Erinnerungsarbeit, Dialog und kritisches Denken in Bosnien und Herzegowina zu stärken. Programmdirektorin Tatjana Milovanović bringt Jugendliche aus der Region zusammen, dokumentiert Geschichten jenseits nationalistischer Narrative und steht mit ihrem Team zunehmend unter politischem Druck. Im Interview spricht sie über ihren persönlichen Weg in die Friedensarbeit, die realen Gefahren für zivilgesellschaftliche Initiativen – und darüber, warum sie trotz allem Hoffnung hat.
Tatjana Milovanovic ist Programmdirektorin des PCRC in Sarajevo
© Pro Peace

Liebe Tatjana, wie bist du zur Friedensarbeit gekommen?

Ich bin in Brčko geboren und aufgewachsen. Schon als Jugendliche erfuhr ich von der Rolle meines Vaters, der mit 19 Jahren während des Krieges in eine berüchtigte Einheit, die Arkans Tigers, eingezogen wurde. Erst Jahre später wurde mir klar, welche Verbrechen dort begangen wurden – diese Erkenntnis ließ mich nicht mehr los. Zunächst machte ich eine Ausbildung als Krankenschwester, studierte später Jura und fand schließlich meinen Weg in die Friedensarbeit.

Seit meinem 13. Lebensjahr engagiere ich mich in Organisationen. 2011 lernte ich Velma Šarić kennen, die Gründerin von PCRC. Wir arbeiteten an einem Dokumentarfilm mit, in dem auch meine Geschichte vorkam. Schon bald beschlossen wir, gemeinsam ein multiethnisches Team aufzubauen. Unsere Vision: Geschichten und Projekte entwickeln, die Hoffnung wecken und junge Menschen ermutigen, in Bosnien zu bleiben.

Wie sieht diese Arbeit konkret aus?

Ein frühes Programm war Ordinary Heroes („Gewöhnliche Helden“): Wir sammelten Geschichten von Menschen, die im Krieg einander halfen – unabhängig von Ethnie. Diese Erzählungen widersprechen den dominanten Kriegsnarrativen. Viele riskierten ihr Leben für völlig Fremde. Wir stellen sie bis heute vor, nicht nur aus Bosnien, sondern auch aus dem Holocaust, aus Ruanda oder Kambodscha. Unser Kernanliegen: unterschiedliche Narrative sichtbar machen, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Grundlage bleiben die Urteile internationaler Gerichte.

Besonders beeindruckend ist der Mut der Frauen, die nach dem Genozid von Srebrenica – bei dem mehr als 8.000 Bosniaken ermordet wurden – ihre Stimme erhoben. Sie verfügten kaum über formale Bildung und hatten keine große Unterstützung, doch sie bewirkten auf internationaler Ebene enorme Veränderungen – etwa die Anerkennung des 11. Juli als Internationaler Tag des Gedenkens und der Erinnerung an den Völkermord von 1995 in Srebrenica. Ihr beharrliches Engagement prägte auch das PCRC, das von Frauen gegründet und bis heute von Frauen geleitet wird.

Wie ist die Lage für die Zivilgesellschaft heute?

Sie ist schwieriger denn je. In der Republika Srpska wurden Gesetze eingeführt, die Verleumdung kriminalisieren und NGOs als „ausländische Agenten“ stigmatisieren. Das zeigt, dass wir etwas richtig machen: Wir legen Missstände offen. Doch genau deshalb stehen wir unter Druck.

Gleichzeitig sind unsere Demokratien jung. Viele Menschen zweifeln, ob sie etwas verändern können. Proteste in Serbien haben Hoffnung geweckt, aber auch gezeigt, wie ein Regime durch wirtschaftliche Abhängigkeit Widerstand brechen kann. Internationale Fördermittel werden gekürzt, Regierungen investieren nicht in uns – das erschwert Camps, Austauschprogramme und die Arbeit mit Jugendlichen.

Hast du ein Beispiel für diese Herausforderungen?

Dieses Jahr organisieren wir ein Regionalcamp mit Jugendlichen aus Bosnien, Serbien, Kroatien und Montenegro. Doch aus der Republika Srpska gab es kaum Bewerbungen. Eltern haben Angst, ihre Kinder könnten Nachteile erleiden. Ich erinnere mich selbst an mein Studium in Ost-Sarajevo: Wer den Genozid von Srebrenica erwähnte, wurde angefeindet. Heute ist die Lage noch schwieriger, weil Hetze in sozialen Medien alltäglich ist und kaum Konsequenzen hat. Neu ist, dass dies zunehmend normalisiert und sogar gesetzlich abgesichert wird.

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Wie reagiert deine Familie auf dein Engagement?

Meine Mutter hat mich immer unterstützt. In Brčko wuchsen wir multiethnisch auf, gemeinsam in einer Schule – ein Gegenmodell zu „zwei Schulen unter einem Dach“. Meine Mutter führte eine kleine Bar, in der alle willkommen waren. Mein Vater kämpft bis heute mit seiner Rolle im Krieg. Seine Sorge galt eher meiner Sicherheit, besonders bei Fahrten nach Srebrenica. Letztlich hat meine Familie mein Engagement akzeptiert.

Was gibt dir Hoffnung?

Die Jugend. Unser Sommercamp in Srebrenica hatte mehr Bewerbungen als je zuvor. Viele junge Menschen aus Serbien und Kroatien wollten sich ein eigenes Bild machen, statt Propaganda zu glauben. Sie stellen Fragen, recherchieren, sprechen mit Überlebenden. Dieses kritische Denken macht mir Hoffnung.

Und was bereitet dir Sorgen?

Die digitale Welt. Jugendliche beziehen den Großteil ihres Wissens online, doch Medienbildung fehlt fast vollständig. Künstliche Intelligenz kann „Wahrheiten“ erzeugen, die schwer überprüfbar sind. Wir versuchen, mit kreativen Inhalten auf TikTok präsent zu sein – einige Videos gingen viral –, doch die Konkurrenz ist riesig. Meine Sorge ist, ob wir als Gesellschaft überhaupt fähig sind, mit dieser Dynamik umzugehen.

In Bosnien und Herzegowina wird Erinnerungspolitik häufig instrumentalisiert und für verschiedene politische Zwecke genutzt. Auf dem Weg zur Gedenkfeier in Srebrenica haben wir Bilder von serbischen Opfern gesehen, die die Straße säumen. Wie ordnest du das ein?

Viele dieser Bilder stammen gar nicht aus den 1990er Jahren, manche zeigen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie werden genutzt, um den Genozid von Srebrenica zu relativieren. Die Tafeln sind lieblos gemacht, manche kippen einfach um. Das ist respektlos gegenüber allen Opfern. Für die Menschen vor Ort, an deren Zäunen die Bilder befestigt sind, ist es oft beschämend, aber sie schweigen aus Angst oder Abhängigkeit. Am Ende verspottet diese Form des Gedenkens sowohl bosniakische als auch serbische Opfer.

Welche Rolle spielt Pro Peace in eurer Arbeit?

Pro Peace ist seit 15 Jahren einer unserer wichtigsten Partner. Gemeinsam haben wir das Handbuch Holocaust and Peace entwickelt – ein Unterrichtsmaterial, das kritisches Denken, Empathie und Geschichtsbewusstsein fördert. In Bosnien ist das Schulsystem zersplittert, es gibt über ein Dutzend Bildungsministerien. Mit unseren Materialien setzen wir Gegennarrative und geben Lehrer*innen Werkzeuge an die Hand, schwierige Themen zu behandeln. Erste Erfolge sehen wir im Kanton Sarajevo, wo das Handbuch bereits eingesetzt wird.

Ein weiteres Beispiel sind Unterrichtseinheiten zu Denkmälern. Kinder sind von ihnen umgeben, wissen aber oft nicht, was sie bedeuten. Wir wollen erreichen, dass sie hinschauen, Fragen stellen und diskutieren.

Das Interview führte Petra Gramer.

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