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Serbien: „Kunst ist eine Gegenmacht“

Die Kuratorin Marija Vuković Biserko aus Serbien im Gespräch mit Pro Peace

Die Kunsthistorikerin Marija Vuković Biserko organisierte Ende Juni gemeinsam mit einem Team das KROKODIL-Festival in Belgrad, in diesem Jahr zeitgleich zu den erneuten Großdemonstrationen gegen die autoritäre Regierung von Aleksandar Vučić. Das Festival bringt seit 2009 literarische und intellektuelle Stimmen und Kunstschaffende aus dem ehemaligen Jugoslawien und ganz Europa zusammen – gegen das Vergessen, gegen Nationalismus und für ein offenes, friedliches Miteinander, erzählt Marija im Gespräch mit Pro-Peace-Kollegin Victoria Weden. Was als literarisches Versöhnungsprojekt begann, hat sich zu einem der wichtigsten politisch-kulturellen Foren in der Region entwickelt. Das Festival steht für Dialog, Erinnerung und Widerstand – besonders in einer Zeit, in der autoritäre Tendenzen, staatliche Repression und mediale Hetze zunehmen. Die 17. Ausgabe des Festivals fand im Juni 2025 unter dem Motto „Under Pressure (Unter Druck)“ statt – angelehnt an die aktuelle politische Lage in Serbien. Pro Peace war als Kooperationspartner eng in die Programmgestaltung eingebunden.
Ein Demonstrationszug zieht einen Banner tragend über eine Brücke.
© Dinko Gruhonjic

Das KROKODIL-Festival wurde 2009 gegründet – was war die Idee dahinter?

Wir wollten nach den verheerenden Kriegen der 1990er Jahre etwas schaffen, das Menschen aus der gesamten Region des ehemaligen Jugoslawiens wieder zusammenbringt – durch Literatur, Diskussionen, Austausch. Der Krieg mag vorbei sein, aber das bedeutet nicht, dass alles gut ist. Die Brüche sind noch immer tief. Das Festival sollte ein Raum für Verbindung sein – über Grenzen hinweg, über Nationalismen hinweg. Es ging nie nur um Texte, sondern immer auch um Menschen und das, was zwischen ihnen möglich ist.

Wie hat sich das Festival seither entwickelt?

Es ist zu einer der wichtigsten kulturellen Veranstaltungen der Region geworden. Wir hatten bekannte Autor*innen, Historiker*innen und andere Intellektuelle auf unserer Bühne. In den letzten Jahren haben wir das Programm außerdem stark erweitert: Es gibt jetzt auch Workshops für Kinder und Erwachsene, visuelle Formate, Filme, internationale Kooperationen und immer mehr gesellschaftspolitische Debatten.

Das diesjährige KROKODIL-Festival war begleitet von andauernden Protesten gegen die Regierung, die im Winter in Novi Sad begonnen hatten.

Gerade dieser Ort ist in diesem Jahr politisch aufgeladen – was ist passiert?

Zum ersten Mal hat sich das Museum für Jugoslawien, eine staatliche Institution, vor deren Gebäude das Festival traditionell stattfindet, öffentlich von uns distanziert. Das war ein deutliches Signal von oben. Und es blieb nicht dabei. Bereits am ersten Abend tauchten Mitarbeitende von Boulevard- und Regierungstreuen Medien auf, die sich als Journalist*innen ausgaben, aber keine Akkreditierung hatten. Sie machten heimlich Ton- und Videoaufnahmen und verbreiteten noch während des laufenden Festivals über staatlich kontrollierte Medien die absurde Lüge, wir würden „das serbische Volk als Völkermord-Nation bezeichnen“. Solche Aussagen sind brandgefährlich. Diese Art der Hassrede kommt direkt aus dem Regierungsapparat – und man weiß nie, wer das hört und was daraus entstehen kann.

Gab es neben der Medienkampagne noch andere Formen von Druck durch staatliche Stellen?

Ja, die Polizei kam, kontrollierte uns, fragte nach Lizenzen – nicht um uns zu schützen, sondern um Druck aufzubauen. Zum ersten Mal mussten wir unsere Stromversorgung selbst organisieren, weil uns der städtische Anschluss verweigert wurde. Das ist eine subtile, aber sehr effektive Form von Sabotage. Trotz allem: Wir waren da. Wir hatten Weniger Publikum als sonst, ja – aber angesichts der brutalen Räumung der Studierendenproteste am Vortag war allein unsere Präsenz schon ein Erfolg.

Was waren die Schwerpunkte des diesjährigen Programms?

Ein zentrales Thema war das Gedenken an den Genozid von Srebrenica, dessen 30. Jahrestag sich 2025 jährt. Gemeinsam mit Pro Peace und weiteren Partnern haben wir ein vielschichtiges Programm gestaltet, das sich mit Erinnerung, gesellschaftlicher Verantwortung und dem kollektiven Schweigen auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung war auch einer der Hauptgründe für die aggressive Hetzkampagne gegen das Festival.

Ein weiterer Schwerpunkt lag auf internationalem Austausch – unter anderem durch die Zusammenarbeit mit dem Polnischen Institut sowie in Kooperation mit dem europäischen Literaturprogramm CELA: What’s On?, bei dem sechs junge Autor*innen aus verschiedenen Ländern ihre Texte vorgestellt haben. Außerdem hatten wir ukrainische Beiträge: die Ausstellung “Gesichter ukrainischer Träume” mit Literatur und Bildern von Kindern, sowie Gespräche mit ukrainischen Schriftsteller*innen.

Die Ausstellung "Gesichter ukrainischer Träume" präsentierte Texte und Kunstwerke von Kindern aus der Ukraine.

Wichtig war uns auch das Programm für Kinder und Familien: Es gab kreative Workshops, interaktive Formate und Lesungen. Besonders berührend war ein Projekt, bei dem bekannte Schriftsteller*innen ihre liebsten Kindheitsgeschichten vorgelesen haben. Uns geht es immer auch darum, Kunst und Kultur niedrigschwellig zugänglich zu machen – für alle Generationen.

Welche Rolle spielte Pro Peace bei der Organisation?

Die Zusammenarbeit mit Pro Peace war zentral – sowohl organisatorisch als auch inhaltlich. Die Festivaldirektorin hat gemeinsam mit Kolleg*innen von Pro Peace und serbischen Organisationen  das Programm entwickelt, Sprecher*innen ausgewählt und Panels konzipiert. Auch einige Moderationen wurden übernommen. Diese Partnerschaft war nicht nur organisatorisch wichtig, sondern auch ideell – sie zeigt, dass wir nicht allein sind, dass wir Teil eines Netzwerks sind, das sich für eine offene, friedliche und kritische Gesellschaft einsetzt. Das Festival ist für uns der Moment im Jahr, in dem wir sichtbar machen, woran wir das ganze Jahr über arbeiten.

Was macht das KROKODIL-Festival konkret aus?

KROKODIL war von Anfang an mehr als eine Literaturveranstaltung. Tagsüber gliedert sich das Festival in verschiedene thematische Bereiche – etwa die Debattenzone, dort sprechen wir mit internationalen Gästen über aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen, Erinnerungskultur, Menschenrechte und Medienfreiheit. Besonders eindrücklich war dieses Jahr eine Gesprächsrunde mit Gästen aus Bosnien und dem Kosovo im Gedenken an den Völkermord von Srebrenica.

Im Kinderbereich nahmen Kinder aus Belgrad an Kunst- und Literaturworkshops teil. In der neuen Filmzone zeigten wir unter anderem den Dokumentarfilm Milena, der das Schicksal einer Frau beleuchtet, deren Familie während der Jugoslawienkriege fliehen musste und deren Leben bis heute von Verdrängung, Schuld und gesellschaftlichem Schweigen geprägt ist. Der Film wirft dabei eindringlich Fragen nach persönlicher Verantwortung und kollektiver Erinnerung auf.

Pro-Peace-Landesdirektorin Nataša Govedarica bei einer Debatte auf dem diesjährigen KROKODIL-Festival in Belgrad.

Am Freitagabend fanden – trotz aller Widrigkeiten – Lesungen unter freiem Himmel statt. Autor*innen wie Sara Stridsberg, Dorota Masłowska, Barbi Marković und Shpëtim Selmani waren zu Gast. Auch wenn wir das Programm aufgrund der politischen Lage und paralleler Demonstrationen reduzieren mussten, war die Resonanz groß.

Ihr fördert auch gezielt den Austausch in der Buchbranche – wie genau funktioniert das?

Mit Meet Me in Belgrade (Triff mich in Belgrad) haben wir ein neues Format geschaffen, das Verleger*innen, Festivalkurator*innen und Autor*innen aus der Region und aus ganz Europa vernetzt. Dieses Jahr waren Teilnehmende aus Polen, Italien, Deutschland, Frankreich, Bosnien und Herzegowina, Slowenien, Albanien, Nordmazedonien und der Ukraine dabei. Für viele aus der Region war es die erste direkte Begegnung mit  Verlagsnetzwerken. Gerade in einem Land, das sich zunehmend von demokratischen Werten entfernt und in Autoritarismus abgleitet, ist dieser Austausch essenziell – er schafft neue Perspektiven, öffnet Türen und wirkt über das Festival hinaus.

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Welche Rolle spielt Kunst in solch angespannten Zeiten?

Ich glaube zutiefst daran, dass Kunst – besonders Literatur – die Avantgarde jeder Bewegung für gesellschaftlichen Wandel ist. Wenn du liest, wenn du dich mit Kunst beschäftigst, trainierst du dein Denken, dein Fühlen, deine Vorstellungskraft. Deshalb haben autoritäre Regime immer Angst vor Künstler*innen und Intellektuellen. Deshalb versuchen sie, Räume wie unseren zu schließen. Aber solange ein Mensch liest, solange er Fragen stellt und diskutiert – ist er frei.

Warum ist das Festival gerade jetzt so wichtig?

Jeder Raum, in dem offen über die Lage gesprochen wird, ist heute existenziell. Selbst wenn es offiziell verboten ist, bestimmte Fakten zu benennen – etwa den Genozid von Srebrenica – brauchen wir Orte, an denen diese Wahrheit ausgesprochen wird. Als Staat haben wir anerkannt, dass dieser Genozid stattgefunden hat – und dennoch wird das Gedenken daran aktiv bekämpft. Gerade deshalb sind solche Räume unverzichtbar.

Marija Vuković Biserko auf dem KROKODIL-Festival

Hast du Angst, so offen zu sprechen?

Nein. Ich bin eine Bürgerin dieses Landes und gemäß der Verfassung der Republik Serbien habe ich das Recht zu sagen, was ich denke. Natürlich gab es Konsequenzen – Drohungen, Versuche, mich aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen, eine Anzeige wegen der Verbreitung von Panik und „politischer Aufwiegelung“ wegen eines Tweets. Aber ich bin noch hier. Und ich bin stolz darauf, dass wir dieses Festival trotz allem durchgeführt haben.

Was bleibt für dich nach dem diesjährigen Festival?

Es bleibt ein Gefühl von Widerstand und Gemeinschaft. Ja, es war das härteste Jahr seit der Gründung des Festivals. Aber es war auch ein Jahr voller Solidarität, Mut und kluger Stimmen. Wir haben gesprochen – und das allein ist heute schon ein Akt der Freiheit.

Das Gespräch in Belgrad führte Victoria Weden, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei Pro Peace.

KROKODIL – Der Verein hinter dem Festival

© KROKODIL

Der Verein KROKODIL ist eine zivilgesellschaftliche Organisation mit Sitz in Belgrad, die sich für regionale Zusammenarbeit, kulturellen Austausch und gesellschaftliches Engagement durch Literatur einsetzt. Der Name steht für "Književno Regionalno Okupljanje Koje Otklanja Dosadu i Letargiju" – auf Deutsch etwa: "Literarisches Regionales Treffen gegen Langeweile und Lethargie". Neben dem jährlichen KROKODIL-Festival betreibt sie das KROKODIL Center, einen Raum für Veranstaltungen, Workshops und politische Bildung.

Mehr Informationen unter: www.krokodil.rs/eng

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