Wehrhaftigkeit mal anders

Ein Plädoyer für die Soziale Verteidigung

Wehrhaft ohne Waffen - kann das wirklich funktionieren? Die Antwort ist ein klares Ja, wie nicht nur Studien, sondern auch viele Beispiele Sozialer Verteidigung aus Geschichte und Gegenwart belegen. Und doch ist das Konzept heute eher unbekannt. Eine aktuelle Kampagne, die unter anderem vom Bund für Soziale Verteidigung getragen wird, will das ändern und zeigt, wie Menschen auch in Deutschland ganz konkret aktiv werden und den Ernstfall vorbereiten können. Mitmachen ist dabei ausdrücklich erwünscht.
Menschenkette Baltische Staaten
© Kusurija – Vlastní dílo, CC BY-SA 3.0

Viele Menschen glauben nicht an das Versprechen von mehr Sicherheit und Frieden durch militärische Aufrüstung. Dennoch ist das Konzept der Sozialen Verteidigung für die meisten bisher zu theoretisch, um überzeugend zu wirken. Die Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“ will das ändern, denn Soziale Verteidigung als gewaltfreier Widerstand kann eine Gesellschaft wirksam gegen einen militärischen Überfall von außen, aber auch gegen einen gewaltsamen Staatsstreich von innen schützen. Den Anstoß für die Kampagne gaben der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die von der Bundesregierung ausgerufene „Zeitenwende“ sowie die damit verbundene massive Aufrüstung. Umtriebe antidemokratischer Gruppierungen und Wahlerfolge der rechtsextremen AfD unterstrichen die Notwendigkeit zusätzlich.

Die Kampagne möchte Soziale Verteidigung in der Öffentlichkeit als wirksame Alternative in der sicherheitspolitischen Diskussion bekanntmachen, ihre Umsetzung vorbereiten und einüben. Sie setzt daher auf praktische Ansätze vor Ort: In Regionalgruppen und Modellregionen wird Soziale Verteidigung als Handlungskonzept für den lokalen Kontext diskutiert, konkretisiert und eingeübt. Im Dialog mit den Menschen wird zuerst geschaut, was diese weiterentwickeln und verteidigen wollen, wie das am besten funktionieren kann und was es konkret für ihr alltägliches Leben bedeutet. Ziel ist die Selbstverpflichtung für den Verteidigungsfall von einer breiten Mehrheit der Menschen, die in der Modellregion leben oder arbeiten.

Die Kampagne "Wehrhaft ohne Waffen" zeigt auf, wie soziale Verteidigung gelingen kann. 

Was Soziale Verteidigung bedeutet?

Der Begriff „Verteidigung“ klingt irritierend nach Waffen und Gewalt. Die Soziale Verteidigung verträgt sich aber problemlos mit ziviler Konfliktbearbeitung und Friedensarbeit. Studien haben längst gezeigt, dass gewaltfreier Widerstand erfolgreicher ist als gewaltsamer. Ein Beispiel aus der Ukraine: Am 26. März 2022 marschierte die russische Armee in das ukrainische Slawutytsch ein, tötete drei Menschen und verhaftete den Bürgermeister. Spontane Demonstrationen blieben trotz russischer Provokationen und Drohungen gewaltfrei. Die Menge wich nicht, bis es zu Verhandlungen kam, an deren Ende der Bürgermeister freigelassen wurde. Nach nur zwei Tagen verließ die russische Armee den Ort wieder. Das zeigt, wie gewaltfreie Massenproteste selbst einen bewaffneten Aggressor ins Wanken bringen können.

Seit drei Jahren wirbt auch der Bund für Soziale Verteidigung wieder verstärkt für das namensgebende Konzept. Es geht um gewaltfreien, gesellschaftlichen Widerstand gegen Unterdrückung und Aggression. Soziale Verteidigung basiert auf Methoden aktiver Gewaltfreiheit und zivilen Ungehorsams. Im Unterschied dazu ist sie aber keine Protestform gegen Strukturen, Maßnahmen oder Gesetze innerhalb eines funktionierenden Systems, sondern richtet sich gegen eine illegitime Machtübernahme wie einen Krieg oder Putsch. „Sozial“ meint, dass die Gesamtbevölkerung eines Landes betroffen ist und als Akteurin fungiert. Zudem geht es nicht um die Verteidigung von Grenzen, sondern um die Verteidigung sozialer Errungenschaften und Werte. 

Von Ghandi bis in die Gegenwart

Schon in den 1930er Jahren gab es konkrete Entwürfe zu gewaltfreiem Widerstand. Gandhis Salzmarsch und sein Aufruf, sich gewaltfrei gegen Nazideutschland zu wehren, machten den Ansatz bekannt und riefen zugleich zahlreiche Zweifel auf den Plan. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre wurde das Konzept dann theoretisch weiterentwickelt und untermauert. Den Anfang machte die Studie „Defence in the Nuclear Age“ des britischen Offiziers Stephen King-Hall. Friedensforschende wie Gene Sharp, Johan Galtung und viele weitere folgten. In den 1980ern bestimmte dann der Politikwissenschaftler und Soziologe Theodor Ebert die Debatte, während zugleich Graswurzelaktivist* innen die praktische Gestaltung vorantrieben. Mit dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges verschwand die Soziale Verteidigung jedoch nahezu vollständig aus dem öffentlichen Diskurs und dem Methodenkoffer der Friedensund Konfliktforschung, obwohl verwandte Ideen wie der Zivile Ungehorsam beispielsweise in der Klimagerechtigkeitsbewegung breite Anwendung fanden.

Seit 2011 jedoch erlebt gewaltfreier Widerstand neue Popularität, nachdem die US-amerikanischen Friedensund Konfliktforscherinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan ihre bahnbrechende Studie „Why Civil Resistance Works“ veröffentlichten. Darin zeigten sie, dass zwischen 1900 und 2006 gewaltfreie Aufstände mehr als doppelt so häufig ihre Ziele erreichten wie gewaltsame. Seit 2022 sehen manche Friedensforschende einen neuen Aufschwung der Sozialen Verteidigung, jedoch nicht in der Breite, sondern eher in einzelnen Debattenbeiträgen wie beispielsweise dem Buch „Machtübernahme“ des Journalisten, Aktivisten und FragDenStaat-Projektleiters Arne Semsrott. 

198 Formen des Widerstandes

Die Soziale Verteidigung verteidigt nicht Grenzen, sondern gemeinsame Werte und Güter wie Freiheit, Gemeinschaft, Demokratie, Infrastruktur und Versorgungssysteme des Alltags. Friedensforscher Gene Sharp listet allein 198 verschiedene Formen des Widerstands auf, darunter öffentliche Rede, Streiks und Demonstrationen ebenso wie indirektere oder auch versteckte Methoden von der Nichtzusammenarbeit und dem Boykott bis hin zu alternativen Regierungsstrukturen im Untergrund.

Herrschaft ist, so die Grundannahme, auf ein Minimum an Kooperation der Beherrschten angewiesen. Kooperiert die Bevölkerung nicht, verliert das Regime den Rückhalt und scheitert. Alle Methoden zielen daher darauf ab, die Zusammenarbeit mit den Mächtigen infrage zu stellen.

Im Fall einer militärischen Besatzung wird naturgemäß nur ein Bruchteil der Führungspersonen ausgetauscht, da für weiter funktionierende Strukturen das Know-how der ursprünglichen Mitarbeitenden gebraucht wird. Die Bevölkerung erhält also selbst die Grundlagen des täglichen Lebens aufrecht.

Dementsprechend viele Möglichkeiten gibt es, die neue Autorität zu untergraben, und jede Person kann daran mit ihren eigenen Mitteln mitwirken.

Ein Beispiel für die Methode der dynamischen Weiterarbeit ohne Kollaboration lieferte 1940 die norwegische Bevölkerung. Deutsche Truppen hatten Norwegen besetzt und wollten das Bildungssystem im Sinne der NS-Ideologie reformieren. Jedoch erkannten die norwegischen Lehrkräfte die unrechtmäßige Herrschaft schlicht nicht an, befolgten ihre Gesetze und Verfügungen nicht, sondern arbeiteten in ihrem eigenen Sinne weiter und sprachen darüber mit ihren Schüler*innen. Obwohl man sie im Gegenzug einschüchterte und Einzelne deportierte, war ihr Widerstand erfolgreich, die nationalsozialistische Schulreform fand nicht statt und inhaftierte Lehrkräfte kamen frei.

Norwegische Lehrer 1942 im Zwangsarbeitslager Kirkenes. Während der Besatzung widersetzten sich viele den Anweisungen des NS-Regimes. 

Alltag in Norwegen unter deutscher Besatzung: Ein Aushang informiert über Strafen für Spionage. Im Falle einer solchen Fremdherrschaft kann Soziale Verteidigung ein wirksames Gegenmittel sein.

Gelbe Gummienten als Zeichen des Protests

Zusammenhalt und Kooperation der Zivilbevölkerung sind die Grundlage Sozialer Verteidigung. Widerstand wird zu einem gemeinschaftlichen Akt, der Nachbarschaften und Communitys zusammenrücken lässt. Gemeinschaftsgefühl und die Erfahrung, als Gruppe etwas bewirken zu können, wirken selbstbestätigend und stärken den Zusammenhalt. Kleine Symbole wie Büroklammern am Revers der norwegischen Lehrenden, gelbe Gummienten als Protestsymbol in Thailand oder grüne Bänder in Russland als Zeichen gegen den Ukraine-Krieg sind nicht nur Signale der Wiedererkennung und Zusammengehörigkeit, sondern auch Aufrufe zum Durchhalten.

Je subtiler solche Symbole sind, umso schwerer sind sie zu ahnden. Die internationale Öffentlichkeit reagiert zudem in der Regel mit Unverständnis, wenn ein Besatzerregime plötzlich das Mitführen eines so harmlosen Gegenstands wie einer Badeente bestraft, so dass Aggressoren hier unausweichlich ihren Rückhalt verspielen.

Eine dezidierte Analyse der Ziele des Aggressors macht es einfacher, diese Ziele zu entlarven und zu konterkarieren. Boykotte oder die dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration nach dem norwegischen Beispiel bieten sich an, wenn es dem Aggressor um die Ausdehnung seiner Macht oder die Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskraft geht, denn vor allem Letztere lässt sich leicht verhindern, indem die Auszubeutenden sich einfach nicht an die Befehle halten.

Streiks als Druckmittel können sinnvoll sein, genauso können sie jedoch auch großen Schaden anrichten, weil sie je nach Bereich Teile einer funktionierenden Infrastruktur außer Kraft setzen und damit zu neuen Problemen führen. Wenn weitergearbeitet wird, ohne die Regeln der Besatzer zu befolgen, kommt es nicht zu einem Zusammenbruch der Strukturen – dennoch kann durch das, was Arne Semsrott Bummelstreik nennt, vieles stark verlangsamt und ineffizient gemacht werden, was ganz gezielt dem Aggressor schadet, ohne dass dieser dagegen effektive Repressionen verhängen kann – denn wie bestraft man Langsamkeit? Wichtig ist bei allen Methoden nur, dass genug Menschen mitmachen. Denn ist die Gruppe der Widerständigen zu klein, kann unauffällig gegen sie vorgegangen werden. Je kleiner die aktive Gruppe, umso mehr öffentliche Unterstützung braucht sie, damit ihre Aktivitäten nicht unbemerkt niedergeschlagen werden können.

Grüne Bänder als Zeichen des Widerstands gegen den Krieg: Wo eine freie Meinungsäußerung nicht mehr möglich ist, wie hier in Russland, findet der Protest kreative Formen. 

Vier Regionen zeigen, wie es geht

Stand Herbst 2025 gibt es im Rahmen der Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“ vier Modellregionen in Berlin-Moabit, Essen, am Oberrhein und im Wendland sowie eine wachsende Zahl an Regionalgruppen und regionalen Ansprechpersonen. Die Vernetzung verschiedener Beteiligter in den Modellregionen geht weit über die klassische Friedensbewegung hinaus, bindet Gruppen aus dem Umwelt- und Klimaschutz oder, wie im Wendland, aus der Antiatombewegung ein.

Auch spirituelle Formate spielen beispielsweise in Berlin-Moabit eine Rolle, wo die Reformationskirche REFO Moabit e. V. als Trägerin der Modellregion fungiert und mitten in der Großstadt mit ihren Angeboten in den Kiez hineinwirkt. Als Treffpunkt und Schutzort hat die REFO Moabit eine breitgefächerte und offene Herangehensweise an die Soziale Verteidigung. Sie nennen ihr Projekt daher ResilienzZentrum und arbeiten am Aufbau resilienter Beziehungen, Infrastruktur und Demokratie. Damit erweitern sie das Konzept Sozialer Verteidigung und beziehen beispielsweise auch den Aufbau einer dezentralen Wärme-, Wasser- und Stromversorgung durch erneuerbare Energien ein, um im Krisenfall unabhängig zu sein. Wenn in Berlin die Lichter ausgehen, gehen sie in der REFO an. Soziale Verteidigung, Katastrophenschutz und die Energiewende sind hier ein Gesamtpaket. Auch Gemeinschaftsprojekte zu Anbau und Herstellung von Lebensmitteln und Stadtbegrünung sollen Selbstversorgung ermöglichen.

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Viel ländlicher geht es im strukturschwachen Wendland zu. Hier sind die Schwerpunkte Stärkung des Zusammenhalts und der Aufbau von Bündnissen zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Demokratische Teilhabe und die gemeinsame menschenrechtsbasierte Wertegrundlage tragen die Aktivitäten und zielen unter anderem darauf ab, gesellschaftliche Barrieren und Diskriminierung abzubauen und gewaltfreie Konfliktkultur zu stärken. Auch hier geht es um dezentrale, nachhaltige Wirtschaft und demokratische Widerstandsfähigkeit.

Darüber hinaus arbeiten zahlreiche regionale und bundesweite Arbeitsgruppen an einzelnen Themen und der Vernetzung. Auch drei Jahre nach Kampagnenstart entstehen noch immer neue Gruppen, stoßen ständig neue Aktive dazu. Bei der Kampagne aktiv werden können alle, auch wo es noch keine Modellregion oder Regionalgruppe gibt.

Eine Übersicht über die aktiven Regionalgruppen und Modellregionen für Soziale Verteidigung.

Im Rahmen der Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“ des Bundes für Soziale Verteidigung probieren Menschen in Modellregionen und Gruppen mit regionalen Ansätzen aus, wie Soziale Verteidigung organisiert und vorbereitet werden kann. Unter www.wehrhaftohnewaffen.de können Interessierte das Starter-Paket zur Kampagne bestellen, Kontakt zu einzelnen Arbeitsgruppen aufnehmen oder sich Tipps für die Organisation von Vorträgen und Workshops holen. Die Modellregionen und ihre Aktivitäten sind sehr unterschiedlich und hier nur beispielhaft angerissen. Wer hier mehr ins Detail gehen möchte, sei auf das ausführliche Dossier zur Kampagne unter www.wissenschaft-und-frieden.de/dossier/soziale-verteidigung-aufbauen verwiesen.