
Herzlichen Glückwunsch zum Aachener Friedenspreis. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der Auszeichnung erfahren haben?
Ich muss gestehen, ich hatte vorher noch nicht vom Aachener Friedenspreisgehört. Wir haben dann in der Initiative und mit den Familien darüber gesprochen und entschieden, die Auszeichnung anzunehmen. Der Friedenspreis ist eine klare Botschaft: Unsere Arbeit wird gesehen und gewürdigt. Das ist sehr wichtig und gibt Kraft, um weiterzumachen.
Die Initiative 19. Februar Hanau wurde sehr schnell nach dem Anschlag gegründet und innerhalb kürzester Zeit eine Begegnungsstätte eröffnet. Wie haben Sie das geschafft?
Wir waren verschiedene Leute aus Hanau und auch aus anderen Städten, die schon seit vielen Jahren antirassistisch aktiv und bundesweit gut vernetzt sind. Schon am ersten Tag haben wir uns zusammengetan und geschaut, wie wir unterstützen können. Wir haben erste Mahnwachen organisiert, bei denen die Namen der Opfer im Mittelpunkt standen. Bis dahin waren die Namen nicht öffentlich gesagt worden, dabei muss doch im Zentrum stehen, um wen es geht. Gleichzeitig haben wir auch Informationen gesammelt. Es gab viele Gerüchte und viel Chaos. Wir haben versucht, eine Unterstützungsstruktur für die Betroffenen zu schaffen, und haben schnell entschieden: Es braucht einen Raum, wo alle zusammenkommen können. Einen Monat später hatten wir den Schlüssel. Die Begegnungsstätte hat seitdem sieben Tage die Woche geöffnet, auch während Corona. Hier können wir alles machen: die Erinnerungsarbeit, die Unterstützung und Beratung für die Betroffenen, die bundesweiten und lokalen Aktionen. All das können wir von hier aus gemeinsam organisieren.
Sie haben bereits kurz erwähnt, dass ihr bei Gedenkveranstaltungen immer die Namen der Ermordeten in den Mittelpunkt stellt. Welche Botschaft wollten Sie damit senden?
Was wir in Hanau gemacht haben, baut auf den Erfahrungen anderer Betroffener von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt auf. Es gab in Deutschland schon so viele Anschläge – und so wenig Aufklärung. Die Stimmen der Betroffenen und ihre Bedürfnisse, etwa zum Thema Erinnerung, hat man nicht beachtet. Die Namen des NSU-Trios kennt heute in diesem Land jeder. Aber wer weiß die Namen der zehn Opfer? Kaum jemand. Das muss sich ändern, denn das ist Teil des Problems. Die Perspektive der Betroffenen muss im Mittelpunkt stehen.
In Hanau sind viele Orte der Erinnerung entstanden. Wie hat sich dieses Gedenken entwickelt?
Vom ersten Tag an wurden die Tatorte zu Gedenkorten. Dort und auch am Brüder-Grimm-Denkmal auf dem zentralen Marktplatz in Hanau waren jeden Tag Menschen, es war wochenlang voll mit Tausenden Kerzen und Blumen. Auch viele Familienangehörige kamen dorthin. Wir haben mit ihnen gesprochen und Fotos hingelegt. Wir haben jede Woche frische Blumen und Kerzen geholt und dafür gesorgt, dass die Plätze sauber und gepflegt bleiben. Mittlerweile tun wir das vor allem einmal im Monat, um den 19. herum. Ein paar Monate nach dem Anschlag haben wir außerdem Gedenktafeln aufgebaut, damit die Fotos nicht mehr auf dem Boden standen. Wir haben alles selbst organisiert, in Absprache mit den Angehörigen. Auch die Stadt hat später Gedenktafeln aufgebaut. Es gibt also jeweils eine Tafel von der Stadt und von uns. Das ist beides da, und das ist auch gut so.
Ein halbes Jahr nach dem Anschlag gab es aber auch Stimmen aus der lokalen Politik, die forderten, das Brüder-Grimm-Denkmal auf dem Hanauer Marktplatz wieder frei zu räumen. Was war Ihre Reaktion?
Es ist respektlos, zynisch, heuchlerisch. Es ist wirklich ignorant. Ein Politiker aus der Gegend, der sagt: „Das Erinnern gehört auf den Friedhof“ – das geht gar nicht. Die Familien und wir haben uns ganz klar dazu positioniert. Auch andere aus der Stadt, etwa der Bürgermeister, haben sich dagegen ausgesprochen. Aber die Realität ist, dass solche Stimmen immer wieder zu hören sind. Nicht jede*r will diese Bilder sehen, nicht jede*r will gedenken. Es gibt Leute, die die Tat nicht einmal als rassistischen Anschlag empfinden. Das ist die Situation in diesem Land.
Aber hier in Hanau haben wir es geschafft, die Namen und die Gesichter bis heute öffentlich sichtbar zu halten. Und das bleibt so, solange die Familien es möchten. Denn es ist wichtig, daran zu erinnern, was passiert ist. Daran zu erinnern, dass es um Menschen ging – und dass solche Taten immer wieder möglich sind. Hanau steht in einer langen Kette rechten Terrors in Deutschland. All das muss sichtbar gehalten werden, um Veränderungen zu erreichen.
In der weltweiten Friedensarbeit von Pro Peace beschäftigen wir uns viel mit der Aufarbeitung von Krieg und Gewalt. Und wir stellen immer wieder fest: Wo diese Aufarbeitung fehlt, setzen sich die Konflikte der Vergangenheit bis in die Gegenwart fort. Brauchen wir in Deutschland eine neue Aufarbeitung von rechten Gewalttaten?
Definitiv. Aber Deutschland muss zunächst einmal bereit sein, den rechten Terror aufzuarbeiten. Schon beim NSU gab es ein klares Versprechen: Aufklärung. Das wurde nicht gehalten. In der Vergangenheit wurde rechte Gewalt immer wieder relativiert. Man hat nicht hingeguckt, man hat es nicht ernst genommen oder nicht ernst nehmen wollen. Auch in Hanau reden wir seit über anderthalb Jahren über Aufklärung. Aber wir bekommen von keiner Behörde auch nur ansatzweise das Gefühl, dass sie das ernst nehmen. Deshalb machen wir öffentlich Druck und haben einen Untersuchungsausschuss gefordert (der im Juli 2021 einberufen wurde, Anm. d. Red.). Wir wissen, dass es auch damit keine 100-prozentige Aufklärung geben kann. Aber es ist ein weiterer Schritt, um Antworten zu kriegen.
Newroz Duman ist Aktivistin und Expertin für Antirassismus und die Selbstorganisation von Geflüchteten, Migrant*innen und Menschen, die von Rassismus betroffen sind. 2002 ist die heute 32-jährige Kurdin über das Mittelmeer nach Deutschland geflüchtet. Seitdem lebt sie in Hanau. Sie engagiert sich unter anderem bei „Jugendliche ohne Grenzen“ und ist Sprecherin der „Initiative 19. Februar Hanau“.
In einem Interview zum ersten Jahrestag des Anschlags haben Sie gesagt: „Wir brauchen keine warmen Worte mehr, wir wollen jetzt Taten sehen.“ Sind diese Taten mittlerweile erfolgt?
Es sind Veränderungen passiert, aber nur, weil die Betroffenen, Angehörigen und Unterstützer*innen nicht nachgegeben haben. Niemand hat sich zurückgezogen, obwohl es schwer ist. Wir haben es geschafft, dass die Erinnerung sichtbar bleibt. Wir haben einen Opferhilfsfonds gefordert, damit die Familien nicht auch noch finanziell leiden. Einen solchen Hilfsfonds gibt es jetzt in Hessen, allerdings mit wenig Geld und auch nicht wie von uns gefordert nur für Opfer von rechter Gewalt, sondern für Betroffene von Gewalttatenallgemein. Aber es ist trotzdem ein Schritt vorwärts. Genauso beim Untersuchungsausschuss: Auch der ist erst aufgrund des Drucks aus Hanau eingesetzt worden, aufgrund der Recherchen, die wir durchgeführt haben, und der Fragen, die wir gestellt haben. Ausreichend ist das alles aber noch nicht, denn beim Thema Aufklärung blockieren die Behörden weiterhin. Bei der Polizei ist nichts passiert, absolut gar nichts. Ein Verfahren nach dem anderen wird eingestellt und wir müssen gucken, wie wir dagegen vorgehen.
Hanau hat rund 100.000 Einwohner*innen. Viele davon haben selbst Flucht oder Migration erlebt oder sind von Rassismus betroffen. Wie hat der Anschlag das Miteinander in der Stadt verändert?
Ich glaube, in der Stadtgesellschaft hat sich schon etwas verändert. Die Menschen erinnern sich und beteiligen sich an Aktionen. Zum Beispiel haben Firmen, Sportvereine und Theatergruppen eigene Gedenkveranstaltungen organisiert und angefangen, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Schulen haben Bäume gepflanzt und es finden Workshops statt. Es ist natürlich noch ein langer Weg, aber es ist etwas in Gang gekommen.
Sie sprechen die Schulen an. Serpil Temiz Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhat Unvar, hat eine Initiative gegen Rassismus an Schulen ins Leben gerufen. Ist Bildung der Schlüssel zu einer gerechteren und friedlicheren Gesellschaft?
Bildung allein reicht nicht, denn es gibt strukturelle Probleme, die sich dadurch nicht bekämpfen lassen. Aber Bildung ist ein sehr wichtiger Teil und es würde sich bereits einiges verändern, wenn Themen wie Rassismus in den Schulen ernst genommen würden. Das Problem ist, dass diese Themen nur dann in die Schulen kommen, wenn sich engagierte Lehrkräfte oder Vereine dafür einsetzen. Und das reicht nicht aus. Sie müssen zum Lehrplan gehören.
Sie engagieren sich bereits seit vielen Jahren gegen Rassismus und für die Selbstorganisation von Betroffenen. Was motiviert Sie?
Meine Motivation ist, dass ich nicht allein bin. Es gibt unglaublich viele Menschen, die versuchen, in dieser Gesellschaft etwas zu verändern. Menschen, die von strukturellem Rassismus betroffen sind, Menschen, die in dieses Land geflohen sind, Menschen, die seit drei oder vier Generationen hier leben. Kurz: unterschiedlichste Menschen, die versuchen, sichtbar zu sein und Haltung zu zeigen. Das gibt Kraft. Ich persönlich glaube, in der Gesellschaft, in der Politik und in den Institutionen verändert sich nichts, wenn man nicht laut und sichtbar ist. Und es muss sich noch vieles verändern in diesem Land. Das sind wir den Opfern schuldig.
Eine zentrale Botschaft der Initiative 19. Februar lautet: Erinnern heißt verändern. Welche Veränderungen wünschen Sie sich von der neuen Bundesregierung?
Die nächste Regierung muss rechten Terror und Rassismus konsequent bekämpfen. Die Attentäter von Hanau, Halle und Kassel waren den Behörden bekannt, wurden aber nicht ernst genommen. Das darf sich nicht wiederholen. Es geht auch um Rechtsextremismus in Strukturen wie Polizei und Militär: 13 Mitglieder des Sondereinsatzkommandos, das am 19. Februar in Hanau war, waren in rechten Chat-Gruppen. Da wird nicht durchgegriffen. Was wir immer wieder feststellen, ist, dass es bei rechtem Terror keine konsequenteStrafverfolgung gibt und die Versäumnisse und Fehler der Behörden oftmals gar nicht aufgearbeitet werden. Es ändert nicht besonders viel, wenn die Politik nur über Alltagsrassismus redet. Es geht auch um institutionellen Rassismus. Die Strukturen müssen sich verändern und die Versprechen für Aufklärung müssen eingehalten werden.
Wie können sich weiße Menschen solidarisch zeigen und Betroffene von Rassismus und rechter Gewalt unterstützen?
Ich denke, es muss ein Stück weitergehen, als sich nur auf Demos solidarisch zu zeigen. Wir alle haben in dieser Gesellschaft eine Rolle, Verantwortung, sei es in der Familie, im Kreis unserer Freund*innen oder auf der Arbeit. In allen Kreisen, in denen wir uns bewegen, braucht es Solidarität und eine klare Haltung. Es ist auch wichtig, sich bewusst zu sein, dass ganz viele Menschen die Privilegien der weißen Mehrheitsgesellschaft nicht haben. Ich glaube, dass jede Person in ihrem Kreis Veränderungen schaffen kann. Solidarität muss über das Gesagte hinausgehen, da müssen Taten folgen: auf der Straße, in der Schule, in unserem Viertel. In der eigenen Community Begegnungsräume zu eröffnen, bedeutet, sich zu trauen aufeinander zuzugehen.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg bei eurer Arbeit!