Das Ende der weißen Retter

Wege zu einer antirassistischen Friedensarbeit

Mit Umweg über die USA hat die Debatte über Rassismus auch die Mitte der deutschen Gesellschaft erreicht. Für Organisationen der Friedens- und Entwicklungsarbeit berührt das Thema den Kern ihrer Arbeit. Und es bietet die Chance, endlich im 21. Jahrhundert anzukommen.
Marianne Pötter-Jantzen
© Wolfgang Radtke

Marianne Pötter-Jantzen arbeitet als Referentin für Politik bei Misereor. Die Diplom-Geografin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Rassismus und ist Mitglied der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ (ISD).

Im Sommer 2020 fanden in vielen deutschen Städten Demonstrationen der Black-Lives Matter-Bewegung statt. Für viele der weißen Demonstrant*innen war die Polizei-Brutalität in den Vereinigten Staaten das motivierende Moment, auf die Straße zu gehen. Und auch die Medien konzentrierten sich zunächst auf diesen Aspekt. Für viele Schwarze und People of Color ging es jedoch vor allem darum, ihr Recht einzufordern: geschützt zu sein vor rassistischer Benachteiligung in Deutschland. Denn Rassismus nimmt uns auch hier den Atem.

Er begegnet uns in Filmen, Büchern, Fernsehsendungen, auf Twitter, in der Schule, an Grenzen, in Unternehmen, auf dem Wohnungsmarkt … oder eben in Begegnungen mit der Polizei. Und er begegnet weißen Menschen in Form von Repräsentanz, Privilegien und Macht – an genau den gleichen Orten. Die zwei Seiten der Rassismus-Medaille heißen „Diskriminierung“ und „Privileg“.

Der gewaltsame Tod des US-Amerikaners George Floyd löste 2020 weltweite Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt aus.

Problematische Farbenblindheit

Gerade weiße Menschen, die bei Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) arbeiten oder sich ehrenamtlich für die Eine Welt engagieren, wollen oft keine Hautfarben sehen. Sie leben in „Happy-Land“, wie es die Antirassismus-Trainerin Tupoka Ogette nennt. Ein Ort, wo Hautfarbe keine Rolle spielt und Rassismus überwunden ist. Leider bedeutet eine gut gemeinte Einstellung nicht automatisch, dass etwas auch gut gemacht wird. Denn im Alltag bedeutet die „Farbenblindheit“ weißer Menschen das Ausblenden eigener Privilegien und das Negieren der Realitäten aller Menschen, die aufgrund äußerer Zuschreibungen, Hautfarbe oder anderer rassifizierter äußerlicher Merkmale tagtägliche Diskriminierung erfahren. Und es bedeutet die Erklärung der weißen Perspektive zur einzig gültigen. Die Schwarze britische Autorin Reni Eddo-Lodge formuliert es so: „Weiß zu sein, heißt, Mensch zu sein; weiß zu sein ist universell. Ich weiß das nur, weil ich nicht weiß bin.“ Um diese Aussage besser verstehen zu können, hilft ein Ausflug in die koloniale Vergangenheit.

Die Menschenverachtung und Brutalität des europäischen Kolonialismus, beginnend mit der Eroberung Amerikas, steht in krassem Widerspruch zum christlichen Glauben wie auch zu den Werten der Aufklärung und liberaler Demokratie sowie der Vorstellung, dass alle Menschen mit den gleichen Rechten und Pflichten geboren werden. Die Kluft zwischen kolonialer Praxis und europäischem Wertekanon überbrückt die koloniale Erzählung mit der Erfindung der „Menschenrassen“ – und ihrer Hierarchisierung. Wobei weiße Europäer (tatsächlich nur Männer) immer ganz oben stehen. Menschen anderer Erdteile und Hautfarben werden darunter einsortiert. Und sie werden wahlweise als Kinder oder dem Tierreich zugehörig definiert. Sprich: Andere Menschen seien „weniger wert“ oder „weniger Mensch“ und bedürfen daher einer weniger oder gar nicht-menschlichen Behandlung.

Die koloniale Erzählung bietet damit eine ethische Rechtfertigung der Kolonialpolitik und -wirtschaft. Ein zentrales Motiv der kolonialen Erzählung ist zum Beispiel die Vorstellung, es sei die Aufgabe der weißen Europäer, andere Völker zur Zivilisation, Arbeit, Kultur oder Moderne zu führen. Denn andere Völker seien „wie Kinder“. Sie seien wild, kulturlos, grausam, abergläubisch und im Emotionalen verhaftet. Menschen anderer Völker seien auch zu keiner individuellen Leistung fähig. Sie seien in ihrer „Natur“ verhaftet und als uniforme Masse zu betrachten. Daran knüpft zum Beispiel die Metapher von Afrika als dem „dunklen Kontinent“ an. Afrika wird als Raum ohne Geschichte, Staatswesen oder Zivilisation betrachtet. Auch zählen dazu westliche Vorstellungen über den sogenannten „Orient“ oder die Figur des „edlen Wilden“. Kumuliert wird diese Erzählung von der Idee der „Bürde des weißen Mannes“ („the white man’s burden“), die Welt zu retten, personalisiert in der Figur des „weißen Retters“ („white saviour“).

Das lange Leben der kolonialen Erzählung

Der Kolonialismus ist Geschichte, die koloniale Erzählung – ebenso wie ihre Folgen – leider nicht. Wir alle haben sie durch Filme, Bücher, Reportagen und im Geschichtsunterricht (unfreiwillig) gelernt und verinnerlicht.

Im Schulunterricht lernen wir brutale Eroberer wie Hernando Pizarro als mutige „Entdecker“ kennen. In Filmen spielen Schwarze vor allem die einfältigen, brutalen oder sinnlichen Nebenrollen oder treten als Statist*innen auf. Und es erscheint uns selbstverständlich, dass Menschen in Europa den höchsten Lebensstandard haben. „White Charity“ heißt ein Film, der die rassistischen Stereotype der Spendenwerbung deutscher Hilfswerke kritisch unter die Lupe nimmt. Denn dort begegnen sie uns tatsächlich oft in Text und Bild: die weißen Retter*innen, in Form von weißen Ärzt*innen, Prominenten und Expert*innen. Welches Bild vermitteln Spendenaufrufe und Broschüren voll mit Kinderbildern, Strohhütten oder Slums von den Ländern, in denen wir arbeiten? Das Dilemma liegt auf der Hand, Hilfsorganisationen arbeiten dort, wo die Armut dominiert, und sollten dies authentisch dokumentieren. Aber da in der weißen Mehrheitsgesellschaft andere Erzählungen kaum angenommen werden, prägt diese Art der Spendenkommunikation maßgeblich die Vorstellungen über andere Weltregionen, ebenso wie über Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland und Europa. Und so ist es kein Wunder, dass zum Beispiel immer noch viele Menschen am liebsten einem weißen Retter oder einer weißen Retterin ihr Geld für ein Entwicklungsprojekt anvertrauen, sei es nun Mutter Teresa oder Bono.

Und dann gibt es die zahlreichen Freiwilligendienste der Organisationen, die junge Erwachsene aus Deutschland, oft direkt nach der Schule, für ein Jahr in Projekte in den Globalen Süden entsenden. Sind sie alle viele kleine weiße Retter*innen? Vielleicht nicht aus Sicht der Organisationen, aber sicher aus Sicht vieler Angehöriger und Freund*innen der Freiwilligen. Das zeigen zum Beispiel die bewundernden Kommentare unter vielen Social-Media-Einträgen.

Viele junge Menschen aus dem Globalen Norden leisten Freiwilligendienste im Globalen Süden.

Aber es geht um mehr als um Spendenaufrufe. Als afrodeutsche Frau bin ich es gewohnt, die einzige Schwarze Person im Raum zu sein. Das ist bei Veranstaltungen von Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit nicht anders – es sei denn, es werden explizit „Gäste“ aus Ländern des Globalen Südens eingeladen. Die deutschen Organisationen hingegen begreifen sich als weiß. Dabei haben 25 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen sogenannten Migrationshintergrund. Unter den Vorständen, Beschäftigten und Unterstützenden der allermeisten Organisationen sind wir jedoch seltene Ausnahmen.

Was aber können wir als Organisation zu einem echten Wandel beitragen, wenn unsere eigene Struktur exakt die nach ethnischer Zuschreibung hierarchisierte Ungleichheit abbildet? Nicht zuletzt auch aufgrund unserer bislang wenig diversen personellen Besetzung nimmt innerhalb von Organisationen die Diskussion darüber, was Rassismus mit unserer Arbeit zu tun hat, erst jetzt an Fahrt auf.

Greta Thunberg ist nicht die einzige Aktivistin

Selbst die weltweite Klimabewegung braucht eine weiße Retterin. Für mich ist Greta Thunberg eine außergewöhnliche und inspirierende Persönlichkeit. Aber warum geben wir Ridhima Pandey, Isra Hirsi oder Vanessa Nakate nicht dieselbe Bühne? Die Uganderin Vanessa Nakate zum Beispiel wurde auf einem Pressefoto einfach rausgeschnitten. Das Foto zeigte junge Klimaaktivistinnen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Dieser Vorfall ist exemplarisch: Die Kämpfe und Beiträge von Schwarzen, Indigenen und People of Color werden ausradiert. Eine weltweite Bewegung wird „weißgewaschen“ („white washing“). Es geht nicht darum, Gretas Leistung kleinzureden, sondern den Mut und die Ideen von Vanessa anzuerkennen. Wie viel würden wir alle davon profitieren?

Andere Fragen wirft das Sicherstellen auf, dass Projekte eine nachprüfbare, positive Wirkung entfalten. Wer prüft und wer wird überprüft? Wer bestimmt die Kriterien? Wer definiert, was eine positive „Entwicklung“ ist? Und wie beantworten wir solche Fragen, wenn wir sie in den Kontext des kolonialen Mythos der Zivilisierung stellen? Wenn wir analysieren, dass globale Macht- und Wirtschaftsverhältnisse aus dem Kolonialismus erwachsen sind, was bedeutet das für die Zusammenarbeit mit unseren Partnerorganisationen?

Rassismus und koloniales Erbe sind immer mit Macht verbunden, und sei es nur die Macht zu definieren oder zu benennen. Und für viele „normale“ Menschen ist Macht negativ besetzt und keinesfalls etwas, über das sie verfügen. Das macht die machtkritische Beschäftigung mit Rassismus emotional schwierig. Gerade weiße Menschen, die sich für die Eine Welt engagieren, wollen auf keinen Fall ihre Macht missbrauchen oder rassistisch sein. Aber leider ist Rassismus keine Exklusivleistung böser Nazis oder dem Ku-Klux-Klan. Er gehört zur DNA europäischer Geschichte, Politik und Philosophie. Und er wird mit der kolonialen Erzählung erlernt. Diese Erkenntnis ist befreiend. Deshalb arbeiten gute Antirassismus-Trainings zum einen auf der kognitiven Ebene. Sie vermitteln Wissen über die Entstehung und Verbreitung des Rassismus. Zum anderen geht es um die emotionale Ebene. Zum Beispiel, wie aus Abwehr, Ärger oder Schuldgefühlen eine antirassistische Haltung und Handlungen erwachsen können.

Rassismus aufarbeiten und aufbrechen

Warum braucht es überhaupt Trainings gegen Rassismus? Wenn wir unseren Auftrag und Anspruch ernst nehmen, müssen sich große NGOs ebenso wie kleine Eine-Welt-Gruppen rassismuskritische Fragen stellen, wie etwa: Welchen Einfluss haben rassistische Stereotypen, Bilder und Narrative auf unsere Konzepte und inwiefern beeinflussen sie unsere tägliche Arbeit? Wie sah der Kolonialismus in unseren Partnerländern genau aus? Und welchen Einfluss hat das auf die aktuelle Situation? Vielleicht auch: Welche Denkmäler wollen wir vom Sockel stürzen?

Die Herausforderung besteht allerdings darin, dass das allgemeine Wissen über die Epoche des Kolonialismus nur wenig ausgeprägt ist. Die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels und des Kolonialismus wird an deutschen Schulen weder ernsthaft gelehrt noch deren anhaltende Bedeutung für die Gegenwart hergestellt. Und so speist sich die Vorstellung der meisten Menschen über diese Epochen vor allem aus Filmen wie „Jenseits von Afrika“, „Vom Winde verweht“ oder „Django unchained“.

Leider bilden die meisten Menschen der NGOs und Eine-Welt-Engagierten hier keine Ausnahme. Auch in den Studiengängen vieler entwicklungsrelevanter Fächer ist der Zugang wenig historisch. Entwicklungszusammenarbeit beginnt nach dieser Lesart mit der Ära der Unabhängigkeit. Die Auswirkungen des Kolonialismus werden bestenfalls in Bezug auf den Globalen Süden hin betrachtet, nicht aber in Bezug auf den Globalen Norden. Und wie viele Theologiestudierende beschäftigen sich mit der Rolle der Mission im kolonialen System? Um dies zu ändern, wäre es aus meiner Sicht wichtig, dass die Geschichte des Kolonialismus endlich selbstverständlicher Bestandteil des Geschichtsunterrichts wird. Außerdem sollten die machtkritischen Perspektiven der „Black und Decolonial Studies“ dringend Einzug in den Pflichtteil der Studiengänge finden – und in die Fortbildungsprogramme der Organisationen, Akademien und Volkshochschulen.

Neue Kooperationen und ein vielfältiges Wir

Die deutsche Diskussion über Rassismus kreist viel zu oft um die Frage: „Warum ist das denn jetzt rassistisch?“ „Darf man das N*-Wort sagen?“ „Warum heißt das jetzt ‚Paprikaschnitzel nach ungarischer Art‘“?“ Aber diese Fragen lenken nur von den viel wichtigeren, eigentlichen Fragen ab: „Wer wollen wir sein?“ und „Welche Welt streben wir an?“ Das gilt für Individuen wie Organisationen. Wollen wir Menschen ausschließen oder einladen? Was tun wir dafür, damit sich jede Person wohlfühlt? Wollen wir ungerechte Machtverhältnisse zementieren oder aufbrechen? Wem geben wir Raum? Was wollen wir ändern?

In Deutschland gibt es unzählige (post-)migrantische Organisationen, auch solche, die Projekte in den sogenannten Herkunftsländern unterstützen. Kooperationen von Organisationen der klassischen Friedens- und Entwicklungsarbeit mit diesen Organisationen sind allerdings sehr selten. Aber auch innerhalb der Organisationen, Verbände und Initiativen gibt es viele Ansatzpunkte. Ein Ziel sollte sein, eine diversere Beleg- bzw. Mitgliedschaft anzustreben. Dazu sind konkrete Konzepte und eine inklusive Kultur nötig, die unterschiedliche Identitäten anerkennt und von ihren Perspektiven profitiert. Aber es braucht auch diverse und inklusive Angebote.

Es gibt also viele Optionen, neue Wege zu beschreiten. Die schlechte Nachricht: Keiner davon ist idyllisch, bequem oder konfliktfrei. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Die meisten von ihnen führen in eine gleichberechtigtere Zukunft.

Dieser Beitrag erschien erstmals in der Zeitschrift „Forum Weltkirche“, die vom Internationalen Katholischen Missionswerk missio Aachen und dem Verlag Herder herausgegeben wird.