
Wie sich fatale Fehler wiederholen
Die Kriege der 1990er Jahre stecken in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien noch immer tief in den Köpfen der Menschen. Feindbilder werden aufrechterhalten, Abgrenzung und Ablehnung zwischen den Ethnien auch von Regierungsseite wieder zunehmend geschürt. Nationalismus, Rechtsextremismus und die Verehrung vermeintlicher Kriegshelden greifen um sich, vor allem unter jungen Menschen, die die Kriege nicht erlebt haben und mit unhinterfragten Ressentiments aufgewachsen sind. Viele Konflikte bergen weiterhin ein enormes Gewaltpotenzial. Die Arbeit von Pro Peace und seinen Partnern in der Region konzentriert sich auf Vergangenheitsbewältigung, formale und non-formale Friedenserziehung. Damit wirken wir militanten Diskursen entgegen, überwinden Stereotype und fördern eine Kultur der Gewaltfreiheit.
Das Projekt "Holocaust & Peace" bildet die Schnittmenge zwischen interkultureller Bildung und sektorübergreifender Friedenserziehung. Es fußt auf Beispielen erfolgreicher Pädagogik aus der jahrzehntelangen Holocaust-Erziehungsforschung sowie Wissen und Erfahrungen konfliktbetroffener Gemeinschaften und Einzelpersonen. Das Ergebnis ist ein praktischer Leitfaden für Pädagog*innen, die mit Schüler*innen der Sekundarstufe, Studierenden im ersten Studienjahr sowie jungen Menschen in nicht-formalen Bildungsbereichen arbeiten.
"Holocaust & Peace" stellt die Friedenserziehung in den aktuellen gesellschaftspolitischen Kontext von Bosnien und Herzegowina und sorgt dadurch für ein besseres Verständnis der Ursachen und Nachwirkungen der Balkankriege der 90er Jahre. Es betont Friedenserziehung als wichtiges Instrument für konstruktive Prozesse der Vergangenheitsbewältigung und des Gedenkens. In einem Land, wo bis heute verschiedene Ethnien zwar im gleichen Schulgebäude, aber dennoch strikt getrennt in separaten Klassen unterrichtet werden ("Zwei Schulen unter einem Dach"), scheint dieser Ansatz mehr als nötig, um vor allem die junge Generation wieder in den Dialog zu bringen und unhinterfragte Feindschaften durch Offenheit und Toleranz zu ersetzen.
Wie es zu dem Handbuch kam
Im Sommer 2015 initiierte das EIHR einen Holocaust-Bildungsgipfel in Bosnien und Herzegowina. Sie waren überzeugt, dass die Zusammenarbeit zwischen Schlüsselpersonen an der Basis, Lehrenden, Forschenden, politischen Entscheidungsträger*innen und anderen Bildungsakteur*innen das Potenzial hat, eine Dynamik für den Wiederaufbau der Gemeinschaft zu erzeugen. Umfangreiche Recherchen zur Geschichte des Holocaust und international anerkannten Mustern von Gräueltaten schlossen sich an. Die Partnerorganisationen sowie Bildungsverantwortliche aus allen Teilen der bosnischen Gesellschaft formten ein Bildungs-Team und luden Interessenvertreter*innen aus dem Bildungsbereich zu regelmäßigen Treffen und Workshops ein. Auch die jüdische Gemeinde in Bosnien und Herzegowina unterstützte das Projekt und ermutigte die Aktiven, diese historische Arbeit gemeinsam zu leisten. Aus dieser kontinuierlichen Zusammenarbeit entstanden das Unterrichtshandbuch und die dazugehörigen Workshops für Lehrer*innen.
"Holocaust & Peace" umfasst vier Module mit den Titeln „Geschichte“, „Menschenrechte“, „Konstruktive Erinnerungskultur“ und „Sprache, Literatur und Kunst“. Die Unterrichtseinheiten werden in erster Linie in den Fächern Soziologie, Politik, Geschichte, Literatur und Sprachen unterrichtet, aber es steht den Lehrenden frei, sie auch in anderen Fächern einzusetzen.
Der Grundstein für die Zusammenarbeit vom Post Conflict Research Center, dem Educators' Institute for Human Rights und Pro Peace wurde beim Education Summit 2015 im Jahorina-Gebirge gelegt.
Die Entwicklung des Handbuchs war auch eine Reaktion auf eine Bestandsaufnahme der in den Schulen der Westbalkanregion vorhandenen Lehrkapazitäten zu den aktuellen Konflikten vor Ort. Die Erhebung hatte einen großen Mangel an Inhalten in Schulbüchern, Ressourcen und Praxisbeispielen offengelegt. Trotz zahlreicher Bildungsreformen in den letzten 20 Jahren ist die Qualität der Bildung in Bosnien und Herzegowina schlecht. Die PISA-Studie im Jahr 2018 sah das Land auf dem 62. von 79 Plätzen. Das fragmentierte und nach Ethnien sortierte Bildungssystem mit häufig drei parallelen Lehrplänen in der formalen Bildung trägt zu internen Konflikten bei, indem es die bestehenden Spaltungen verschärft und kritisches Denken, einen faktenbasierten Dialog über die Vergangenheit und die Infragestellung der vorherrschenden Narrative, Vorurteile und Stereotype verhindert. Friedensbildung und konstruktive Erinnerungskultur in den Schulen wirken der unkritischen Leugnung von Massengrausamkeiten, Holocaust und Völkermord sowie der Verherrlichung von Verbrechern und Verbrechen gegen die Menschlichkeit entgegen, wie sie heute sogar von politischen Führungsfiguren über soziale Medien verbreitet wird.
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Der weite Weg aus der Vergangenheit in die Zukunft
Das Handbuch „Holocaust & Frieden - Lehren aus der Vergangenheit für die Zukunft“ wurde im Januar 2022 offiziell vorgestellt und seitdem in Klassenzimmern in ganz Bosnien und Herzegowina erprobt. Im Januar 2023 trafen sich über 80 Lehrkräfte aus dem Kanton Sarajevo zum ersten intensiven Workshop über Holocaust-Erziehung und friedensfördernde Pädagogik. Im Herbst 2023 wurde das Handbuch offiziell in den Lehrplan des Kantons Sarajevo aufgenommen. Seitdem arbeitet das Projekt daran, es landesweit in den offiziellen Lehrplänen zu verankern. Der Bosnische Staat zerfällt jedoch in die Föderation Bosnien und Herzegowina, die Republika Srpska und das Sonderverwaltungsgebiet des Brčko-Distrikts, die Föderation wiederum in 10 Kantone mit jeweils eigenen Curricula und Zuständigkeiten. Alle 13 einzelnen Ministerien - ein landesweites Bildungsministerium existiert nicht - müssen in Gesprächen davon überzeugt werden, das Handbuch und den darauf basierenden Unterricht zu akkreditieren und als Teil des Lehrplans festzuschreiben, damit die Inhalte flächendeckend bei den Schüler*innen ankommen. Zurzeit laufen Verhandlungen mit den Kantonen Tuzla und Goražde (Bosnisches Podrinje). Um den gesamten westlichen Balkan mit all seinen untereinander noch immer verfeindeten und sich in Nationalismus und Gewalt zurückziehenden Ethnien und Untergruppen zu erreichen, ist viel Geduld und Überzeugungsarbeit nötig.
"Das Handbuch hat großes Potential, überall regional angewandt zu werden, bedenkt man, dass jedes einzelne Land im westlichen Balkan die gleichen Probleme hat, weil wir in den 90ern alle im Krieg waren", sagt Velma Šarić, Gründerin und Präsidentin des Post-Conflict Research Center (PCRC). Der Prozess der Vergangenheitsbewältigung müsse regional und ganzheitlich angegangen werden. Es gebe jedoch immer wieder Schwierigkeiten, die diesen Prozess blockierten. In Kroatien sei beispielsweise im Zuge des EU-Beitritts offiziell zwar Vergangenheitsbewältigung und eine Wandlung der Justiz erfolgt, faktisch habe sich jedoch wenig getan und der Prozess stehe in der Bevölkerung noch immer am Anfang. An eine Implementierung von Schulunterricht sei dort noch nicht zu denken.
So funktioniert das Handbuch
"Wir stellen positive Geschichten über Zivilcourage und aufopferungsvolles Verhalten während des Krieges vor, in denen verschiedene ethnische Gruppen und Minderheiten einander helfen und dabei ihr eigenes Leben für Nachbar*innen, Freund*innen oder manchmal auch für Menschen riskieren, die sie nicht kennen", erzählt Velma Šarić. Kapitel 5 des Handbuchs „Gewöhnliche Helden“ über die Zivilcourage des Einzelnen in Konfliktsituationen behandelt die Verfolgung der Sinti*zze und Rom*nja im Zweiten Weltkrieg und untersucht die Rolle von Randgruppen und Minderheiten in Bosnien und Herzegowina in den Kriegen der 1990er Jahre in ihrer Situation als Opfer, aber auch als widerstandsfähige und mutige Personen. Die Rom*nja-Bevölkerung wird seit den Konflikten der 90er Jahre und bis heute diskriminiert. "Es geht aber nicht nur um Bosnien. Wir bringen Beispiele für moralische Erfahrungen aus dem Holocaust, aber auch aus Ruanda oder Kambodscha", erklärt sie. Behandelt werden Themen wie die Bekämpfung von Propaganda, Hassrede und Diskriminierung, die auch in der bosnischen Gesellschaft hochaktuell sind.
Im Mai 2018 organisierte Pro Peace gemeinsam mit mehreren Partnern eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Zweiten Weltkriegs in Sarajevo.
Das Handbuch ist zudem integraler Bestandteil des Bildungsprogramms im Rahmen der Einrichtung eines Holocaust-Museums in Bosnien und Herzegowina. "Wir erklären, was 'nie wieder" in der realen Welt bedeutet." Velma bezeichnet das Handbuch als eine der größten Errungenschaften ihrer Arbeit beim PCRC, da es mit der formalen Bildung am wichtigsten Punkt ansetzt. Dass die nonformale Bildung nicht funktioniere, merke sie daran, dass Jugendliche in der Westbalkanregion heute oft radikaler seien als ihre Eltern und Großeltern. Die Erfahrungen der Lehrenden, die das Handbuch anwenden und mit ihren Schülerinnen und Schülern, manchmal ganz zufällig, den Bogen von Alltagserlebnissen zu Lektionen des Buches schlagen, sind für sie daher immer wieder beeindruckend und erfüllen sie mit Stolz. Gerade in der Republika Srpska, sagt Velma, wäre es angesichts der aktuellen politischen Lage extrem wichtig, junge Menschen mit Bildung über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die heutigen Gefahren zu erreichen. Um solchen Unterricht anzubieten, brauchen Lehrende komprimierte Ressourcen. "Da kannst du nicht mit fünf verschiedenen Büchern ankommen und sagen 'benutze Dieses oder Jenes', als Lehrer*in hast du nur sehr begrenzte Zeit", sagt Velma. "Ich bin Pro Peace, damals noch forumZFD, sehr dankbar, dass sie das Potential gesehen und uns bei dem Handbuch unterstützt haben".
Allein im ersten Training wurden 80 vom Bildungsministerium des Kantons Sarajevo eingeladene Lehrer*innen durch die drei Projektpartner zum Unterricht mit dem Handbuch geschult. Damit war der erste Meilenstein gesetzt, um das formale Bildungssystem zu verbessern. Diese Lehrkräfte des Kantons Sarajevo unterrichten jedes Jahr etwa 40 000 Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klasse und Studierende des 1. Studienjahrs. Alle diese jungen Menschen lernen seitdem erstmals aus einer Friedensperspektive über den Holocaust, Zivilcourage und die Rolle jedes Einzelnen bei der Herbeiführung positiver Veränderungen. Schon früh gab es mittels der fortlaufenden Online-Evaluierung Rückmeldungen, die Unterrichtspläne trügen zu einem besseren Verständnis des Themas Vergangenheitsbewältigung bei, förderten den Gruppen- und Austauschunterricht in den Klassenzimmern und das kritische Denken. Dies geschieht vor allem in den Lehreinheiten zu kontroversen Themen. Diese binden die Schülerinnen und Schüler in gemischte Gruppenarbeit und den Austausch unterschiedlicher Perspektiven und Meinungen ein, die im Klassenzimmer geäußert, geschützt und respektiert werden sollen. Einige Lehreinheiten haben Rückmeldungen zufolge die Schüler*innen zu weiteren Aktivitäten inspiriert und sie für Vorurteile und die Bedeutung des Friedens sensibilisiert. Lehrer*innen schätzen die kreativen Anregungen des Handbuchs, mit sensiblen Themen umzugehen und Unterricht zur Friedenserziehung interessanter zu gestalten. Immer wieder wird auch der Wunsch nach mehr solchem Unterrichtsmaterial laut.
Die Projektpartner
Das Post-Conflict Research Center (P-CRC) widmet sich der Wiederherstellung einer Friedenskultur und der Verhinderung von Gewaltkonflikten in den westlichen Balkanländern, indem es unkonventionelle und innovative Ansätze in den Bereichen Friedenserziehung, Postkonfliktforschung, Menschenrechte und Übergangsjustiz entwickelt, umsetzt und unterstützt. Es strebt nach einer Gesellschaft, die Vielfalt nicht mehr als Quelle von Konflikten, sondern als Grundlage für Wohlstand wahrnimmt.
Das Educators' Institute for Human Rights (EIHR) wurde von Lehrenden für Lehrende gegründet und unterstützt Gemeinschaften, die sich von gewaltsamen Konflikten erholen. Gemeinsam mit Partnern in verschiedenen Ländern entwickelt das EIHR Unterrichtsmaterialien für die jeweiligen Länderkontexte und vernetzt Lehrer*innen durch Workshops und Kongresse.
Pro Peace in Sarajewo kooperiert eng mit beiden Organisationen bei der Entwicklung von Lernmethoden, die eine integrative und transformative statt spaltende Auseinandersetzung mit historischen Erzählungen ermöglichen. So werden Pädagog*innen befähigt, schwierige Themen konfliktsensibel zu behandeln und ausschließende Erzählungen zu hinterfragen.