
Alles begann am 1. November 2024 in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, als es zu einer Tragödie kam: 16 Menschen kamen ums Leben, eine Person wurde schwer verletzt. Der Unfall ereignete sich, als ein schweres Stahlbeton-Vordach des frisch renovierten Hauptbahnhofs einstürzte – ein staatlich geleitetes Projekt.
Der Schock entlädt sich in Protesten
Nach dem ersten Schock wurde der Öffentlichkeit schnell klar, dass die Ursache der Tragödie die endemische Korruption im Land ist, die sich von Jahr zu Jahr verschärft. Die Bürger forderten daraufhin, dass die Verantwortlichen für dieses als "Staatsverbrechen" bezeichnete Unglück zur Rechenschaft gezogen werden.
Noch am Abend der Katastrophe organisierten Studierende der Gruppe „Studierende gegen autoritäre Herrschaft“ (STAV) auf dem zentralen Freiheitsplatz in Novi Sad eine Gedenkveranstaltung für die Opfer. Am 5. November riefen sie die Bürger*innen der Stadt auf, sich in der Nähe des Unglücksorts zu versammeln – etwa 30.000 Menschen folgten dem Aufruf. Es war die größte Demonstration in der Geschichte der Stadt.
Einsatz von Schlägertrupps gegen Demonstrierende
Das Regime reagierte mit Repression: mehrere Studierende, Aktivist*innen und Oppositionsvertreter*innen wurden verhaftet. Zudem organisierte die Regierung eigene Schlägertrupps, maskiert mit Sturmhauben und bewaffnet mit Baseballschlägern, die das Rathaus verwüsteten – und den Demonstrierenden die Schuld gaben. Die Polizei griff trotz massiver Präsenz vor Ort nicht ein.
Trotz der Gewalt gingen die Proteste weiter, da das Regime sich weigerte, den Forderungen der Studierenden nach Bestrafung der Verantwortlichen nachzukommen. Diese richteten sich vor allem an die Justiz – die jedoch, wie viele Institutionen in Serbien, unter Kontrolle des Regimes steht.
Anfang Dezember wurden bei einem weiteren Gedenken in Novi Sad mehrere Studierende der Hochschule für darstellende Künste in Belgrad von regimetreuen Schlägern brutal angegriffen. Das führte zur Blockade dieser Hochschule durch Studierende – ein Protest, der sich in den folgenden Tagen auf fast 90 Universitäten und Fachhochschulen ausweitete. Es war die größte Studierendenblockade in der Geschichte Serbiens und der Region.
Auf vielfältige Weise gedenken die Menschen in Novi Sad der Opfer des Dacheinsturzes im November 2024. Noch nie zuvor in der Geschichte der Stadt protestierten so viele Bürger*innen gegen die grassierende Korruption.
Proteste im ganzen Land
Ende Januar griffen Aktivist*innen der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) in Novi Sad erneut Studierende an – mehrere wurden schwer verletzt. Kurz darauf traten Premierminister Miloš Vučević und der Bürgermeister von Novi Sad, Milan Đurić, zurück. In Städten wie Novi Sad, Kragujevac und Niš fanden daraufhin erneut Massenproteste mit zehntausenden Teilnehmenden statt. Die Bewegung breitete sich auf das ganze Land aus – in jeder Stadt und Gemeinde gibt es wöchentliche Proteste.
Die größte Demonstration fand am 15. März in Belgrad statt – zwischen 300.000 und 500.000 Menschen sollen daran teilgenommen haben. Es war der größte Protest in der Geschichte der Stadt – sogar größer als der vom 5. Oktober 2000, der zum Sturz von Slobodan Milošević führte.
Der Protest in Belgrad wurde jedoch gewaltsam beendet – das Regime setzte vermutlich eine „Schallkanone“ oder ein ähnliches verbotenes Mittel ein. Der Angriff geschah während einer 16-minütigen Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer von Novi Sad. Nur durch das besonnene Eingreifen studentischer Ordner*innen konnte eine Massenpanik mit möglichen Todesopfern verhindert werden. Das Regime bestritt jede Verantwortung, doch zahlreiche Zeugenaussagen und Beschwerden über gesundheitliche Folgen widersprechen dem.
Was als Gedenken für die Opfer der Katastrophe am Bahnhof von Novi Sad begonnen hatte, weitete sich zu landesweiten Demonstrationen für Demokratie und Gerechtigkeit und gegen die serbische Regierung aus.
Repressalien und Verhaftungen
Zwei Tage vor dem Protest in Belgrad wurde auf fünf regimetreuen Fernsehsendern gleichzeitig ein abgehörtes Gespräch von zwölf Studierenden und Oppositionsaktivist*innen ausgestrahlt. Die serbische Geheimdienstbehörde BIA hatte heimlich die Räume der Oppositionspartei "Bewegung Freier Bürger" in Novi Sad abgehört. Daraufhin wurden sechs Personen verhaftet – die anderen sechs befanden sich auf einem Menschenrechtsfestival in Dubrovnik. Alle zwölf werden wegen versuchten Umsturzes der Verfassungsordnung – also praktisch wegen Terrorismus – angeklagt. Viele Bürger*innen empfinden diese Maßnahmen als absurd und sehen darin ein Zeichen zunehmender Diktatur. Präsident Vučić wiederum beschuldigt westliche Länder, hinter den Protesten zu stehen, die er als „Farbenrevolution“ bezeichnet.
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Die Rolle der EU
Politische Analyst*innen werfen der EU Doppelmoral vor. Obwohl die Forderungen der Studierenden mit den Grundwerten der EU übereinstimmen, äußern sich Brüssel und führende EU-Politiker nur zaghaft oder gar nicht kritisch. Frankreichs Präsident Macron verkauft weiterhin Kampfflugzeuge an Serbien, und der ehemalige deutsche Kanzler Scholz unterzeichnete mit Vučić ein Abkommen über Lithiumabbau – trotz massiver Proteste der Bevölkerung gegen diese Industrie. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sogar von einem „konstruktiven Treffen“ mit Vučić. Nur aus Teilen des EU-Parlaments und der Zivilgesellschaft gibt es Unterstützung für die Protestierenden.
Im April organisierten Studierende eine Fahrradtour von Novi Sad nach Straßburg – 1.300 Kilometer –, um europäische Aufmerksamkeit zu erlangen. In Straßburg betonten sie, dass sie Serbien wieder nach Europa führen wollen – aber nicht unter einem autoritären Regime.
In Novi Sad, aber auch in Belgrad, gehen die Sicherheitskräfte hart gegen die Protestierenden vor.
Große gesellschaftliche Solidarität mit den Protestierenden
Die Proteste werden von breiten Teilen der Gesellschaft unterstützt – insbesondere von Universitätsprofessor*innen, die dafür mit Gehaltskürzungen bestraft wurden, sowie von Lehrer*innen, die teilweise sogar ganz ohne Gehalt dastehen. Auch Anwält*innen und Landwirt*innen zeigten Solidarität.
Der repressive Kurs des Regimes zeigte sich besonders deutlich Ende Februar beim bewaffneten Polizeieinsatz gegen vier prominente NGOs in Belgrad. Aktivist*innen werden an der Grenze schikaniert, unabhängige Medien diffamiert, Journalist*innen zur Zielscheibe erklärt, ausländische Bürger*innen – vor allem aus der EU – abgeschoben oder mit Einreiseverboten belegt.
Während dieser Text entsteht, ist unklar, ob die Protestbewegung auch eine politische Form annehmen wird. Das Regime hat die Institutionen und das politische System zerschlagen. Es hat seit 13 Jahren keine freien Wahlen gegeben. Deshalb fordern viele, darunter auch die Studierenden, eine Übergangsregierung aus Expert*innen, die freie Wahlen vorbereiten soll. Voraussetzungen dafür wären die Befreiung der Medien, der Justiz und der Wahlkommission. Freiwillig wird das Regime diese Macht nicht aufgeben – aber ein starker, außerinstitutioneller Druck der Öffentlichkeit könnte es dazu zwingen.
In einem Land, in dem der Rechtsstaat ausgesetzt ist, sind Massendemonstrationen oft der einzige Weg, um geraubte Rechte zurückzuerlangen.
Im Dezember 2024 wurde Dinko Gruhonjić mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Weimar ausgezeichnet. Die Stadt würdigte damit nicht nur die Verdienste von Dinko Gruhonjić, sondern unterstrich auch die Bedeutung eines freien Journalismus für die Demokratie in Serbien und dem ganzen Westlichen Balkan.
Prof. Dr. Dinko Gruhonjić ist langjähriger Partner von Pro Peace im Westlichen Balkan. Als Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals „Autonomija“ und Dozent an der Universität Novi Sad setzt er sich seit vielen Jahren für Meinungsfreiheit in einer politisch schwierigen Umgebung ein.